Streitkultur:Ein guter Feind

Die Meinungsfreiheit sei in Deutschland in Gefahr, heißt es oft. Doch tatsächlich fehlt es an anderem: der Fähigkeit Gegnerschaft auszuhalten - ohne den Gegner gleich zu verdammen.

Von Matthias Drobinski

Gift ist eingedrungen in die öffentlichen Debatten in Deutschland, obwohl es hierzulande keinen Präsidenten gibt, der sich in täglich gröberer Beleidigung übt, kein brexitbitteres Parlament, dessen Mitglieder sich gegenseitig in den Wahnsinn treiben. Aber wenn Rechtsextremisten Politikerinnen und Politikern Todesdrohungen schicken, dann ist da ein potenziell tödliches Gift eingesickert. Und wenn der AfD-Mitbegründer Bernd Lucke in Hamburg eine Vorlesung über Makroökonomik nur unter Polizeischutz abhalten kann, dann zeigt sich: In verdünnter Form wirkt es auch bei denen, die sich im Besitz der antifaschistischen Wahrheit wähnen.

Die Meinungsfreiheit sei in Deutschland in Gefahr, heißt es nun. Dabei ist die Meinungsfreiheit gar nicht so sehr das Problem. Man kann in Deutschland Hanebüchenes, gar Menschenverachtendes sagen, ohne dass der Staatsanwalt kommt; man muss nur aushalten, dass andere das dann so kommentieren dürfen, wie es einem selber nicht gefällt. Die Klage, dass die Meinungsfreiheit am Ende sei, klingt oft mimosenhaft: Ich darf mit dem Wörterknüppel loshauen, doch haut einer zurück, rufe ich Au und Weh.

Die Gesellschaft muss die Kunst zivilisierter Auseinandersetzung erst wieder lernen

Es offenbart sich vielmehr die zunehmende Unfähigkeit zum Streit; die Unfähigkeit, Konflikte zu führen, Gegnerschaften, gar Feindschaften auszuhalten, ohne dem Gegner oder Feind den Tod zu wünschen. Es gibt nicht zu viel Streit in Deutschland, sondern es fehlt an der Kunst, eine Feindschaft zu führen, die dem Feind ein Argumentations- und Lebensrecht lässt. In einem demokratischen Rechtsstaat ist diese Kunst unerlässlich. Das bedeutet nicht, dass jedes Argument gleich gilt. Der Rechtsstaat benennt seine Feinde, er bekämpft sie mit Gesetzen, Polizisten, Staatsanwälten. Aber er kennt kein Feindstrafrecht, das seinen Gegnern mindere Rechte zugestehen würde.

Die Unfähigkeit zur guten Gegnerschaft ist bei den Rechten eklatant und offensichtlich; die Herabsetzung des Andersdenkenden ist ihnen ein Identitätsmerkmal und wärmendes Feuer. Es geht ihnen nicht um die Frage, ob Geflüchtete häufiger Straftaten begehen als Sesshafte, ob der Wortlaut des Korans fundamentalistische Lesarten begünstigt oder ob die Unterschiede zwischen Frauen und Männern mehr sind als kulturelle Konstrukte; all dies wäre den scharfen Streit wert. Es geht darum zu bestimmen, wer mitzureden und wer den Mund zu halten hat, und der Weg vom verminderten Argumentationsrecht zum verminderten Lebensrecht ist kurz. Es ist so entlarvend wie bedrückend, wie wenig Nachdenklichkeit der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke bei der AfD und den Pegida-Gruppen verursacht hat.

Doch auch bei den Linken hat die Fähigkeit zur Auseinandersetzung gelitten; die gute Absicht, mit Ausgrenzung die Ausgrenzer von rechts zu bekämpfen, macht die Sache nicht unbedingt besser. Wer die herrschenden Deutungsmuster stört, die falschen Begriffe benutzt, Ambivalenzen zulässt und Zweifel streut, riskiert seine Rede- und Argumentationsfreiheit, dazu muss man nicht einmal Lucke heißen. Die Philosophin und Feministin Svenja Flaßpöhler erzählt, wie sie einmal vor Studentinnen über ihre Probleme mit Teilen der gendergerechten Sprache redete, und die Zwischenruferinnen sie unterbrachen: "Hören Sie endlich auf, Sie beleidigen uns!" Das tötet jeden konstruktiven Streit.

Diese Unfähigkeit, sich befremden zu lassen, fremde Gedanken auszuhalten, ist auch bei den Linken gewachsen. Wer sich aber nicht befremden lassen kann, bleibt Gefangener der eigenen Blase und Harmoniekonstruktion, außerhalb der angeblich Rassismus und Faschismus beginnen. Die gegenwärtige Inflationierung der beiden Begriffe ist ein Krisenzeichen - irgendwann taugen sie nicht mehr zur notwendigen Unterscheidung von Meinungen, die man ärgerlich finden mag, und dem tatsächlichen Rassismus und Faschismus.

Kann man das nicht üben - Konflikte zu führen, Gegner- und Feindschaften auszuhalten, ohne den anderen moralisch oder physisch vernichten zu wollen? In Schulen, Parteien, Gewerkschaften, den Kirchen? Die Feindesliebe zum Beispiel, die Jesus predigte, bedeutet ja zu akzeptieren, dass es Feindschaften gibt, dass Gegnerschaften unausweichlich werden, sobald einer sich für das eine entscheidet und für das andere nicht, diese Meinung vertritt und jene ausschließt. Es heißt aber auch, den Feind als Menschen zu achten und seine Würde zu schützen. Die Kunst der Feindschaft bestünde darin, vom Ross der höheren Moral herabzusteigen auf die Augenhöhe des Gegners. Sie verlangte die regelmäßige Prüfung des Streitgegenstandes und ob er die Feindschaft wert ist - und den Mut zur Asymmetrie: den Gegner nicht zu hassen, auch wenn er selber hasst.

Sie stellt die Wahrheitsfrage: Menschenverachtung ist alle Feindschaft wert. Und kennt doch die Grenzen der eigenen Wahrheit. Kein Mensch schafft das immer. Aber ein tägliches Training täte gut.

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