Europa:Klimaneutral bis 2050

Lesezeit: 3 min

Der EU-Gipfel einigt sich mit großer Mühe auf einen Kompromiss. Nur das Kohleland Polen zieht nicht mit.

Von Karoline Meta Beisel, Björn Finke und Matthias Kolb, Brüssel

Stundenlange Suche nach einem Kompromiss: Der EU-Gipfel in Brüssel. (Foto: Julien Warnand/AP)

Es ist kurz nach ein Uhr in der Nacht zum Freitag, als Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel vor die Presse treten. Ihre Botschaft ist klar, noch bevor die beiden auch nur ein einziges Wort gesagt haben. "Climate Neutral 2050" zeigt der große Bildschirm hinter den beiden an, Klimaneutralität 2050. Es ist also tatsächlich geschafft. Oder?

"Ich glaube, Europa muss kreativ sein, wenn es das europäische Projekt weitertreiben will", sagt Charles Michel, der als früherer Premierminister des schwer (manche sagen: gar nicht) regierbaren Belgien bereits einige Kreativität bewiesen hat. Der Kompromiss, den er in den zurückliegenden Stunden also mit viel Kreativität errungen hat, besteht darin, dass sich die Europäische Union bei diesem Gipfel zwar als Ganzes darauf verständigt hat, die EU bis 2050 klimaneutral werden zu lassen. Ein Mitgliedstaat aber könne sich "derzeit nicht verpflichten, dieses Ziel umzusetzen", wie es in der verabschiedeten Gipfelerklärung heißt. Dieser eine Mitgliedstaat ist Polen, das seine Energie vor allem aus Kohlestrom bezieht, und für das die Umstellung auf saubere Energie darum eine besondere Herausforderung werden dürfte. Beim übernächsten Gipfeltreffen im Juni werde man sich erneut mit dem Thema befassen.

Am Freitag mühten sich alle Beteiligten, das erzielte Ergebnis als Durchbruch darzustellen - wenn auch aus ganz unterschiedlichen Perspektiven: Das sei ein "Meilenstein in der Frage der Klimapolitik der EU", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Bei der gemeinsamen Pressekonferenz wurde Charles Michel von der neuen Kommissionspräsidentin gelobt: "Du warst erfolgreich", sagte Ursula von der Leyen. Beide dürften sich nicht nur fürs Klima gefreut haben. Von der Leyen hatte erst am Mittwoch ihren "Grünen Deal" präsentiert, ein Maßnahmenpaket, das die komplette Klima- und Wirtschaftspolitik auf den Kampf gegen die Erderhitzung ausrichten soll. Michel hat den Plan vollmundig unterstützt. Hätte er keine Einigung präsentiert, wäre beiden der Start ins Amt verhagelt worden. So jedoch kann von der Leyen im Frühjahr wie angekündigt ein Gesetz vorschlagen, das das Ziel der Klimaneutralität auch juristisch verpflichtend machen soll.

Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki begrüßte den gefundenen Kompromiss ebenfalls, stellte aber den eigenen Verhandlungserfolg in den Vordergrund: Polen sei von dem Grundsatz, die Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen, ausgenommen worden, hieß es in einer über Twitter verbreiteten Nachricht. "Wir werden das Ziel in unserem eigenen Tempo erreichen", teilte die polnische EU-Vertretung mit.

Dass die Verhandlungen schwierig werden würden, war schon am Donnerstagnachmittag klar geworden. Lange hatten die Staats- und Regierungschefs diskutiert, ob die Klimaziele auch durch Kernkraft erreicht werden können. Darauf hatten vor allem Ungarn und Tschechien gepocht. Um Budapest und Prag dazu zu bewegen, sich dem großen Ziel anzuschließen, wurde dann extra ein Satz in die Gipfelerklärung aufgenommen: "Einige Mitgliedstaaten haben erklärt, dass sie als Teil ihres nationalen Energiemixes Kernenergie nutzen." Wie die EU-Länder ihre Energie produzieren, ist den Europäischen Verträgen zufolge ihre eigene Sache. "Sie wissen, dass Deutschland aus der Kernenergie aussteigen wird. Andere Länder werden das nicht tun. Aber was zählt, ist das gemeinsame Ziel", sagte Merkel.

Zählen ist das richtige Stichwort, denn es wird zu klären sein, was der Kompromiss konkret bedeutet. Sollen etwa die anderen Mitgliedstaaten umso mehr Schadstoffe einsparen, damit Polen weiter Dreck in die Atmosphäre pusten kann? Immerhin trägt Polen ein knappes Zehntel zum Schadstoffausstoß der Union bei.

Offen geredet wurde über diese Frage in der Nacht nicht. Aus dem Élysée in Paris heißt es jedoch, die anderen Mitgliedstaaten dürften durch Polens Sonderweg "nicht bestraft" werden. Andere argumentieren mit Grammatik: Schon die Tatsache, dass der polnische Sonderweg in der Gipfelerklärung festgehalten sei, beweise ja, dass jedes Mitgliedsland für sich das Klimaziel zu erfüllen habe, sagt ein EU-Diplomat. Grundsätzlich jedoch, auch das wurde deutlich, herrscht bei den Mitgliedstaaten großes Verständnis für die Herausforderung, vor der Polen steht. Insofern war die Einigkeit echt, welche die Staats- und Regierungschefs am Abend auf dem traditionellen Gruppenfoto demonstrierten.

Weniger harmonisch dürften jedoch die Verhandlungen darüber ausfallen, was die polnische Lösung für die andauernden Haushaltsverhandlungen bedeutet. Von der Leyen hat Finanzierungshilfen angekündigt für jene Regionen, die sich mit der Umstellung auf eine saubere Wirtschaft schwerer tun als andere - davon könnte vor allem Polen profitieren. Wie genau das Konzept dazu aussehen soll, und woher die 100 Milliarden Euro kommen sollen, die sie dafür mobilisieren will, hat von der Leyen noch nicht erklärt - wohl mit Absicht, um den Haushaltsverhandlungen nicht vorzugreifen. Im Juni 2020 werde man hoffentlich mehr Klarheit über die künftigen EU-Finanzen von 2021 bis 2027 haben, sagte Bundeskanzlerin Merkel.

Zuvor verständigten sich die Staats- und Regierungschefs darauf, die Wirtschaftssanktionen der EU gegen Russland trotz der Wiederbelebung des Friedensprozesses für die Ostukraine bis Ende Juni 2020 zu verlängern. Ein Treffen mit Wladimir Putin in Paris habe nicht genügend Fortschritte gebracht, erklärte Merkel.

© SZ vom 14.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: