Leipzig:Rituale der Gewalt

Neujahr - Leipzig

Der Rechtsstaat darf weder bei der öffentlichen Sicherheit noch bei der Versammlungsfreiheit Zugeständnisse machen.

(Foto: Sebastian Willnow/dpa)

Die Krawalle der Silvesternacht in Leipzig-Connewitz sind ein Armutszeugnis für Polizei und Linksaußen-Szene. Und eine Zumutung für den großen Rest der Gesellschaft.

Kommentar von Cornelius Pollmer, Leipzig

In der Silvesternacht ist ein Polizeibeamter bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Einsatzkräften und der Linksaußen-Szene in Leipzig so schwer verletzt worden, dass er sein Bewusstsein verlor und noch in derselben Nacht operiert werden musste. Was ein Mindestmaß an Anstand und Mitgefühl nun zuallererst gebietet, ist, diesem Mann alles erdenklich Gute zu wünschen.

Natürlich muss ein solcher Vorfall, zweitens, so genau wie möglich aufgearbeitet werden. Drittens schließlich darf in der Debatte um die Silvesternacht von Leipzig aber auch Platz sein für eine sehr konkrete Ungeduld. Ritualisierte Gewalt-Folklore, wie sie in Connewitz von der Linksaußen-Szene und der Polizei immer wieder zugelassen und oft genug befördert wird, ist ein Armutszeugnis für beide beteiligten Seiten - und sie ist zudem eine Zumutung für den großen Rest der Gesellschaft, der immer wieder genötigt wird, schwer verletzte Menschen zu beklagen und strukturähnliche Wer-hat-angefangen-Prozesse abzuhalten.

So ist es auch dieses Mal. Die Tage nach der Eskalation sind dabei stets die der Maximalpositionen. Von Linksaußen heißt es, die Polizei habe mit stetigem Hubschrauberknattern, mit diensteifrigen Personenkontrollen und anderem offensiven Verhalten die Eskalation selbst provoziert. Für einige besonders bewegte Bürger scheint allerdings schon die bloße Existenz der Polizei eine Provokation zu sein; mindestens eine solche ist für viele die Präsenz dieser Polizei im öffentlichen Raum, wenn dieser Raum die Postleitzahl von Connewitz trägt.

Präzise Kritik an Einsatzkräften und deren Verhalten ist wichtig und eine Gelingensbedingung für den Rechtsstaat, auch sie unterscheidet ihn vom Polizeistaat. Dass von Linksaußen zwar oft solche Kritik zu vernehmen ist, viel seltener aber eine glaubwürdige Distanzierung von Gewalt gegen Sachen oder Personen, ist sehr befremdlich. Von einem aktiven Mitwirken an der Vermeidung einer solchen Gewalt ist da noch gar nicht die Rede. Und dass, wie in Leipzig geschehen, ein zum Polizeiwagen umdekorierter Einkaufswagen brennend durch die Gegend geschoben wird, muss niemand als Meinungsfreiheit verbal ablöschen. Auch dies ist offensives, äußerst fragwürdiges Verhalten.

Auf die Ausschreitungen folgen die Maximalpositionen

Die Polizei wiederum strebt, social-media-geschult, in der Öffentlichkeit eine Meinungsbildung in ihrem Sinne an. Dieses Rollenverständnis ist ebenfalls fragwürdig, und es wird damit hoffentlich nicht gelingen, die gebotene Diskussion über Einsatzstrategien kleinzuhalten. Seit Jahren eskalieren immer wieder Einsätze in Connewitz, daraus ergeben sich auch Fragen an die Polizeiarbeit im Alltag.

Auf das Entsetzen folgt für gewöhnlich das Konsequenzenfordern, und die Maximalpositionen sind abenteuerlich. Aber der Rechtsstaat darf weder in puncto öffentliche Sicherheit noch in puncto Versammlungsfreiheit Zugeständnisse machen. Er muss es stattdessen schaffen, Menschen wie den schwer verletzten Polizisten noch besser zu schützen, als er das bislang vermag.

In diesem Fall werden nun hoffentlich konsequent der Täter und mögliche weitere Beteiligte ermittelt. Alle anderen vor Ort Involvierten wie auch digitale Besserwisser bei Twitter könnten sich derweil Gedanken machen, inwieweit es schäbig ist, so bedauernswerte Vorfälle in Kauf zu nehmen für die immer gleichen eigenen Agenda-Spielereien.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, der Polizist sei "notoperiert" worden. Die Polizei spricht inzwischen nicht mehr von einer Notoperation und hat weitere Aussagen zur Schwere des Zusammenstoßes abgeschwächt.

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Connewitz
:Polizei schwächt Aussagen zu Ausschreitungen ab

Der Ablauf des Abends wird anders beschrieben. Zudem sei der Polizist, anders als ursprünglich dargestellt, nicht notoperiert worden. SPD-Chefin Esken stellt die Taktik der Polizei infrage - und steht deshalb selbst in der Kritik.

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