Krise in Nahost:Willkür ist das neue Prinzip der Außenpolitik

Krise in Nahost: "Es könnte ein Versehen gewesen sein", sagt der kanadische Premier Justin Trudeau über die möglicherweise abschossene Boeing.

"Es könnte ein Versehen gewesen sein", sagt der kanadische Premier Justin Trudeau über die möglicherweise abschossene Boeing.

(Foto: AFP)
  • Die Hinweise verdichten sich, dass eine iranische Flugabwehrrakete das bei Teheran abgestürzte ukrainische Flugzeug getroffen hat.
  • Der Fall belegt, wie unkontrolliert und willkürlich außenpolitische Konflikte derzeit ablaufen.
  • Außenpolitik wird nicht mehr am Verhandlungstisch gemacht, sondern per kühl kalkulierter Provokation.

Von Stefan Kornelius

Weil das erste Opfer eines Krieges bekanntlich die Wahrheit ist, war es nur folgerichtig, dass nach dem Absturz der ukrainischen Passagiermaschine in Teheran zunächst ein heftiger Deutungskampf entbrannte. Der Chef der iranischen zivilen Luftfahrtbehörde behauptete noch am Freitag, er sei sich "sicher", dass die Maschine mit der Flugnummer PS 752 nicht von einer Rakete getroffen worden sei. Hingegen türmten sich Belege, Videoaufzeichnungen und Fotos, die exakt das Gegenteil bewiesen.

Es dauerte quälend lange Stunden, ehe am Samstagmorgen das staatliche iranische Fernsehen überraschend eine offizielle Erklärung verlas und Präsident Hassan Rohani persönlich in unverblümter Sprache von einer "großen Tragödie" und einem "unverzeihlichen Fehler" schrieb. Er kondolierte den Angehörigen und bot ein Schuldeingeständnis, das nur einen Schluss zuließ: Irans Führung musste die Flucht nach vorne antreten. Angeblich hat der Geistliche Führer Ali Chamenei in einer Sitzung des Sicherheitsrats am Freitagabend angeordnet, die Wahrheit zu sagen.

Dieser Kurswechsel und vor allem die außergewöhnliche Offenheit geben Anlass zu Spekulationen. Vor allem wird man nun beobachten müssen, welche Verantwortlichen in Teheran zur Rechenschaft gezogen werden, und wie sich das Schuldeingeständnis auf den Machtapparat auswirkt. Schon zuvor war klar gewesen, dass die iranische Führung Schwierigkeiten haben würde, die nach der Tötung von General Qassim Soleimani geschürten Erwartungen der Massen befriedigen zu können. Der Flugzeugabschuss warf die Führung noch stärker in die Defensive und nahm Teheran den letzten Rest der Opferrolle. Die militärische Unfähigkeit wurde schonungslos offenbart, die Glaubwürdigkeit des Regimes noch einmal deutlich geschmälert. In iranischen sozialen Medien wurde das Militär gar verhöhnt, die Autorität des Landes in der Region darf nun als schwer beschädigt gelten.

Auf der anderen Seite übten sich US-Präsident Donald Trump aber auch der kanadische Premier Justin Trudeau, dessen Land die meisten nicht-iranischen Opfer zu beklagen hatte, in Großmut. Sie sprachen schon vor Irans Schuldeingeständnis von einem "Versehen". Trump spekulierte, dass "jemand auf der anderen Seite einen Fehler gemacht" haben könnte. Der Abschuss hilft Trump politisch, weil er von der strategischen Kurzsichtigkeit der Tötung Soleimanis ablenkt und den innenpolitischen Kontrahenten des Präsidenten den Wind aus den Segeln nimmt.

Der Tod der 176 Menschen von Flug PS 752 belegt aber vor allem, wie unkontrolliert die außenpolitischen Konflikte dieser Tage ablaufen, und wie willkürlich die Führungen von Washington über Moskau bis Teheran ihr Arsenal nutzen. In der aufgeheizten Stimmung der Schattenkriegen unterlaufen dann tödliche Fehler, Milizen und selbst reguläre Einheiten des Militärs agieren unkontrolliert. Trumps Entscheidung zur Tötung von Soleimani war dabei der vorläufig letzte Höhepunkt einer Kette von Provokationen, Demonstrationen nackter Stärke und auch Rechtsbrüchen. Ob Russland in der Ukraine oder bei der Stationierung von Söldnern in Libyen, ob das iranische Regime bei der Entsendung von Milizen nach Syrien oder Jemen, ob die Türkei bei der Besetzung der kurdisch besiedelten Grenzzone oder im Gas-Deal mit der libyschen Scheinregierung in Tripolis: Außenpolitik wird nicht mehr am Verhandlungstisch gemacht, sondern per kühl kalkulierter Provokation.

Am Ende gilt das Recht des Stärkeren. Trump, dessen erratische Politik von Nahost bis zum Pazifik auf Rückzug und Isolation angelegt war, hat mit der Tötung Soleimanis nun zum ersten Mal eine offensive und genauso unberechenbare militärische Botschaft ausgesandt, wie das seine Kontrahenten auf der Weltbühne tun. Der Präsident, der bisher jedem militärischen Risiko aus dem Weg ging, hat damit eine Warnung ausgesandt.

Diese Politik hat eine Sogwirkung

Sicherheitspolitiker haben aufmerksam registriert, wie etwa Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un blitzartig seine Provokationen einstellte. Der propagandistische Aufmarsch hin zu einem Waffentest in Nordkorea scheint momentan gestoppt zu sein. So verwundert es nicht, dass Trump in den USA inzwischen mehr Beifall für seine Angriffsentscheidung erhält als Kritik. Die Falken, in Sorge um die Abschreckungsmacht der USA, segeln jedenfalls wieder in starker Thermik.

Der Sogwirkung dieser Außenpolitik kann sich keiner widersetzen. Ukraines Präsident Wolodimir Selenskij, dessen Land sich nun wieder einmal im Mittelpunkt einer Kriegskrise findet, wurde am Freitag heftig umworben. Washington nutzte gleichzeitig die Teheraner Defensive, um die Schraube noch eine Umdrehung weiter zu ziehen. Außenminister Mike Pompeo und Finanzminister Steven Mnuchin verkündeten neue Sanktionen, die sich gegen acht ranghohe iranische Regierungsvertreter, die Stahlindustrie und Rohstofflieferanten richten. Ausländische Einkäufer iranischen Stahls oder Transportunternehmen treffen die Strafen genauso wie Kupfer- oder Aluminiumproduzenten. Außerdem sollen Frachtunternehmen unter Druck geraten, die auf hoher See sanktioniertes Öl von Schiff zu Schiff verladen. Die nächste Runde im Schattenkrieg hat schon begonnen.

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