Kommentar:In der Aldi-Falle

Die Höhe der Hartz-IV-Sätze hängt von der Preispolitik der großen Lebensmittel­händler ab. Das erweist sich nun als großer Fehler. Denn die Politik hat sich damit erpressbar gemacht. Das zeigt der Streit um billige Nahrungsmittel sehr deutlich.

Von Michael Kläsgen

Mit jedem Einkauf etwas Gutes tun, mit jedem Bio-Nussriegel für eine Armen-Tafel spenden, mit jeder Wasserflasche einem Menschen in Not in Afrika helfen. Es ist toll, dass es Start-ups wie Share gibt, die den Konsum für soziale Zwecke nutzen wollen. Aber man darf die Dinge nicht vermischen. Der soziale Konsum kann höchstens eine zusätzliche Unterstützung für bedürftige Menschen sein, er kann und darf aber Sozial- und Entwicklungshilfe nicht ersetzen. Das ist Aufgabe des Staates und seiner öffentlichen Einrichtungen. Genauso eine Vermischung der Kompetenzen findet jedoch auch bei der Diskussion um faire Lebensmittelpreise statt, und zwar auf höchster Ebene.

Die Chefs der vier größten Lebensmittelkonzerne in Deutschland suggerierten der Bundeskanzlerin bei ihrem Treffen am Montag, die Lebensmittelpreise müssten so niedrig sein, damit sich Millionen Arme in Deutschland ernähren könnten. Selbst wenn das Mitgefühl echt ist, gilt es zu unterscheiden. Es nicht die Aufgabe von Privatunternehmen, Sozialpolitik zu betreiben. Sie können das zusätzlich tun, aber letztendlich ist das die Plicht eines Sozialstaates. Mehr noch: Auch wenn es begrüßenswert ist, dass gute Lebensmittel günstig sind, dürfen Niedrigpreise für den Staat nicht die Grundlage seiner Sozialpolitik sein.

Soziale Verantwortung dürfen und sollten Unternehmen hingegen immer und jederzeit übernehmen. Sie zeigt sich darin, wie gut es den Mitarbeitern geht, wie die Firmen Umweltfragen beantworten oder den gesellschaftlichen Wandel begleiten. Die großen Lebensmittelkonzerne sind da in vielen Punkten weit vorn - sie müssen es sein. Wer nicht Schritt hält, wird vom Verbraucher hart bestraft, siehe die aufgekauften Händler Tengelmann und jetzt Real. Tagtäglich stimmen Millionen Kunden über den Supermarkt ihrer Wahl ab. Der Preis ist dabei das wichtigste, aber nicht das einzige Kriterium.

Was für die meisten gilt, gilt nicht für Hartz-IV-Empfänger

Lidl wandelte sich in Arbeitnehmerfragen vom Saulus zum Paulus. Aldi ist heute der größte Biohändler des Landes und hätte das Pflanzengift Glyphosat, noch schneller als von der Politik verlangt, am liebsten ganz aus den Regalen verbannt, wenn die Lieferanten es ermöglicht hätten. Und auch Rewe und Edeka engagieren sich regional und umweltpolitisch durchaus glaubwürdig. Trotzdem sind die Preise moderat geblieben.

Seit fast 20 Jahren geben die Deutschen im Schnitt knapp 14 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für Nahrung aus. Das ist nicht nur im internationalen, sondern auch im historischen Vergleich wenig. Als Aldi im Ruhrgebiet die ersten Discounter eröffnete, waren es noch etwa 40 Prozent. Die Zeiten sind zum Glück vorbei, mag mancher denken und übersieht doch dabei: Für Millionen Hartz-IV-Empfänger ist es noch heute so. Oder sogar schlimmer. Ihnen stehen von dem Regelsatz von 432 Euro für Alleinstehende 150 Euro für Essen und Trinken oder knapp fünf Euro pro Tag zu. Selbst wer beim Discounter einkauft, muss wahre Kunststücke vollbringen, um damit über den Tag zu kommen. Es ist erstens zu wenig Geld, um drei Mahlzeiten zu finanzieren, und zweitens ist der fürs Essen eingeplante Teil viel zu niedrig. Läge er wie im Bundesdurchschnitt bei 14 Prozent, hätten Leistungsberechtigte 60 Euro im Monat zum Essen übrig. Grotesk wenig in einem reichen Land wie Deutschland. Entsprächen die 150 Euro 14 Prozent des verfügbaren Einkommens, läge die Grundsicherung nicht bei 432, sondern bei 1071 Euro.

Am Ende ist es doch nur ein Vorwand

Lebensmittelpreise sind daher ein Politikum. Obwohl sie niedrig sind, steckt in ihnen sozialer Sprengstoff, auch weil Mieten und Strompreise schon hoch sind. Die Hartz-Sätze zu erhöhen und zu entkoppeln von der willkürlichen Berechnungsgrundlage aufgrund von Stichproben des Bundesamtes für Statistik, haben schon viele erfolglos gefordert. Nun zeigt sich, dass sich die Politik erpressbar gemacht hat, weil sie so lange an Aldi-Preisen bei der Berechnung von Hartz IV festhielt. Sie ist in der Sozialpolitik abhängig von niedrigen Lebensmittelpreisen, die die Konzerne diktieren. Deren Rechnung ist zwar gemein, aber nachvollziehbar: Faire Preise für die Partner in der Lieferkette gefährden günstige Lebensmittel, auf die 13 Millionen von Armut Bedrohte angewiesen sind. Ja, das ist eine Instrumentalisierung von Armut, wie die Sozialverbände zu Recht kritisieren. Und ja, die Drohkulisse von höheren Sozialleistungen oder sozialem Unfrieden dient den Konzernen möglicherweise auch nur als Vorwand, um möglichst wenig für Tierwohl und Klimaschutz zu tun.

Ein Ausweg aus dem Dilemma ist leider nicht in Sicht; und ein Nussriegel von Share bringt auch nicht wirklich etwas.

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