Armut:Der Osten im Westen

23.10.2019, Gelsenkirchen, Ruhrgebiet, Nordrhein-Westfalen, Deutschland - Wohnstrasse mit leerstehenden Schrottimmobilie

Leerstehende Schrottimmobilien in Gelsenkirchen.

(Foto: Rupert Oberhäuser/imago)

Eine Studie zeigt, wie sich Armut im Ruhrgebiet quasi vererbt. Zwei Drittel der Befragten, die vor 20 Jahren in prekären Haushalten lebten, haben den Sprung heraus jedoch geschafft.

Von Christian Wernicke, Bochum

Trotz seit Jahren florierender Wirtschaft leben in Deutschland mindes-tens 2,5 Millionen Kinder in Armut. "Es ist traurige Realität, dass jeder Fünfte von den Kleinen und Schwächsten unserer Gesellschaft in Armut lebt", beklagte Michael Scheffler, Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt Nordrhein-Westfalen, bei einer Fachtagung in Bochum. In NRW sei sogar jedes vierte Kind betroffen. Scheffler forderte, Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) müsse "die Bekämpfung von Kinderarmut endlich zur Chefsache machen". Der Duisburger Sozialwissenschaftler Gerhard Bäcker rechnete vor, dass immer mehr Menschen an Rhein und Ruhr mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens auskommen müssen: Die Quote der sogenannten "Armutsgefährdung" in NRW sei von 14,4 Prozent (2005) auf zuletzt 18,1 Prozent gestiegen. Gerade das Ruhrgebiet, so Bäcker, sei längst "der Osten im Westen."

Die Arbeiterwohlfahrt (Awo) stellte in Bochum eine Langzeitstudie vor, die untersuchte, ob und wie sich Kinder aus Eltern-häusern mit niedrigstem Einkommen aus der Armut befreien können. Zum Erstaunen vieler der etwa 300 Armutsexperten stellte sich heraus: Immerhin zwei Drittel aller Mädchen und Jungen, die 1999 in prekären Haushalten lebten, schaffte den Sprung aus der Armut. "Es gibt keinen Automatismus nach dem Motto: "einmal arm, immer arm", sagte Irina Volf, Studienleiterin beim Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) in Frankfurt.

Die Studie mit dem Titel "Wenn Kinderarmut erwachsen wird" benennt jedoch auch chronische Hürden, die den sozialen Aufstieg behindern. So habe ein Viertel der als Sechsjährige erfassten Kinder aus armen Familien bis heute keinen oder nur einen niedrigen Schulabschluss. Und jeder dritte der heute 25-Jährigen "mit Armutserfahrung" besitze noch immer keinen Berufsabschluss. Die Studie rät, Jugendliche vor allem in der Phase der Berufswahl zu stärken: Vielen der 16- bis 17-Jährigen fehlten Vorbilder, zudem seien ihre Eltern selten eine Unterstützung.

In Duisburg kämpfen mehr als 27 Prozent der Menschen mit Armut. In München zehn Prozent

Überdurchschnittlich von "vererbter Ar-mut" betroffen sind laut ISS-Studie Frauen, darunter vorrangig alleinerziehende Mütter: Drei von vier der befragten jungen Erwachsenen, die in Armut leben, waren Frauen. In Nordrhein-Westfalen ist etwa jede zweite Alleinerziehende von Armut bedroht. Zum typischen "Armutsgesicht im jungen Erwachsenenalter" gehört es laut ISS, dass die Betroffenen keine Arbeit oder nur einen Minijob haben und ohne festen Partner leben. Die nationale Herkunft oder ein "Migrationshintergrund" hätten hingegen keinen entscheidenden Einfluss darauf, ob Kinder aus elenden Verhältnissen es "nach oben" schafften.

Als "ein Armutszeugnis" betitelte in Bo-chum der Soziologe Gerhard Bäcker seine Analyse der sozialen Lage in NRW. In den westdeutschen Großstädten sei mindestens jeder Fünfte akut von Armut bedroht. Hohe Werte meldeten nicht nur die Ruhrgebietsstädte Duisburg (27,4 Prozent), Dortmund (23,9 ) und Essen (21,6), auch Köln (20,4) und die Landeshauptstadt Düsseldorf (19,3) hätten weit mehr mit massenhafter Armut zu kämpfen als etwa München mit einer Gefährdungsquote von nur zehn Prozent.

Besonders hart, so Bäcker, treffe dies die Kinder. Der frühere Professor der Uni Duisburg-Essen verwies auf Gelsenkirchen, wo mittlerweile 40,7 Prozent aller Kinder von Sozialgeld nach Hartz-IV abhängig seien. Ähnliche Werte seien in weiten Teilen des nördlichen Ruhrgebiets zu beobachten. "Und in manchen Vierteln oder Straßenzügen liegen die Quoten über 50 oder sogar 60 Prozent", fügte der Soziologe hinzu. Als Trend beobachte er, dass "sich Armut zu Armut gesellt" und sich etwa durch die Zuwanderung schutzsuchender Geflüchteter die Lage in sozial schwachen Stadtteilen weiter verschärfe.

Als ein Mittel gegen die chronische Armut forderten Teilnehmer der Awo-Konferenz eine Grundsicherung für Kinder. Reiche Eltern in Deutschland hätten per Steuerfreibetrag einen Vorteil von bis zu 637 Euro pro Kind. Eine solche Summe solle armen Familien als Pauschale gezahlt werden.

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