Flüchtlinge:Türkei setzt Europa unter Druck

Erdoğan lässt Migranten ausreisen und erzeugt damit Tumulte an den Außengrenzen der EU. Berlin will Moskau verstärkt dazu drängen, den Syrienkrieg zu beenden

Von Moritz Baumstieger und Boris Herrmann

Turkey Says It Won't Stop Refugees From Reaching Europe After Syria Attack

Sie sitzen fest: Geflüchtete bei Edirne an der türkisch-griechischen Grenze.

(Foto: Getty Images)

Nach der Ankündigung der Türkei, flüchtende Menschen nicht mehr an der Ausreise nach Europa zu hindern, verschärft sich die Lage an den EU-Außengrenzen. Nach Angaben der UN harren fast 13 000 Menschen an Übergängen nach Griechenland und Bulgarien aus. Grenzbeamte beider EU-Staaten versuchen, illegale Einreisen zu verhindern. Die griechische Polizei feuerte am Wochenende wiederholt Tränengas und Blendgranaten ab.

Die Zahl von mehr als 76 000 Geflüchteten, die laut dem türkischen Innenministerium bis Sonntagmittag über die Provinz Edirne in die EU gereist seien, bestätigten Athen und Sofia nicht. Das griechische Migrationsministerium gab an, 9600 Einreisen verhindert zu haben. Ankünfte meldete die griechische Polizei nur aus der Ägäis. Etwa 500 Menschen sei die Überfahrt auf die Inseln Samos, Lesbos und Chios gelungen. Bulgariens Verteidigungsminister sagte, "kein einziger Migrant" habe die Grenze illegal überquert. Regierungschef Boiko Borissow reist am Montag nach Ankara, um mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu sprechen.

Durch die Grenzöffnung will Erdoğan offensichtlich den Druck auf Europa erhöhen, seine Syrienpolitik zu unterstützen. In der Provinz Idlib stellt sich seine Armee einer Offensive der Assad-Truppen entgegen, vor der seit Dezember 950 000 Menschen in Richtung der türkischen Grenzen flüchteten. Bereits heute beherbergt die Türkei 3,6 Millionen Syrer. 2016 hatte das Land in einem Abkommen zugesagt, illegale Migration zu unterbinden. Im Gegenzug sollte die EU Hilfszahlungen leisten.

Athen wirft Ankara nun vor, den Transport von Flüchtlingen an die Grenze zu organisieren, was einen eklatanten Bruch des Abkommens bedeuten würde.

Bei einer Sondersitzung wollen die EU-Außenminister am Donnerstag in Zagreb über das weitere Vorgehen beraten. Während Politiker wie Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz warnen, dass sich eine Massenmigration wie 2015 nicht wiederholen dürfe, warb der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Norbert Röttgen, um Verständnis für die Türkei. Die Drohung, die Grenzen zu öffnen, sei eine Art "Hilferuf". Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet forderte während seines Israel-Besuchs die EU auf, "humanitäre Lösungen" mit der Türkei und Russland zu suchen, damit "man nicht mit Flüchtlingen spielt und Flüchtlinge quasi als Druckmittel gegen Deutschland und Europa einsetzt". Die Linken-Politikerin Sevim Dağdelen nannte Erdoğans Vorgehen im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung "eine Fortsetzung seiner Erpressungspolitik". Erdoğan könne "kein Partner mehr für die Bundesregierung sein". Der SPD-Außenpolitiker Nils Schmid sagte, eine Grenzöffnung seitens der Türkei wäre "extrem kurzsichtig", sie würde einen "enormen Sogeffekt" auf neue Flüchtlinge in das Land ausüben. Grünen-Chefin Annalena Baerbock schlug eine EU-Kontingentlösung zur Aufnahme von Migranten von der türkisch-griechischen Grenze vor, für die auch Deutschland seine Flüchtlingsunterkünfte wieder aktivieren solle.

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