Corona-Lockerungen:Rechtlich zulässig, politisch ein Debakel

Ministerpräsidenten der ´Autoländer"

Archivbild aus dem Jahr 2019: Stephan Weil (SPD, l-r), Ministerpräsident von Niedersachsen, Markus Söder (CSU), Ministerpräsident von Bayern, und Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg

(Foto: dpa)

Die Ministerpräsidenten brüskieren mit ihren Alleingängen die Bundeskanzlerin von Tag zu Tag mehr. Auf der Strecke bleibt die Vernunft, den Schaden wird die Politik als Ganzes haben.

Kommentar von Nico Fried, Berlin

Siegerehrung in der Rubrik Lockerungen: Rang drei für Nordrhein-Westfalens Familienminister Joachim Stamp, dem egal ist, was Ministerpräsidenten und Kanzlerin am Mittwoch besprechen - er macht seine Kitas in jedem Fall auf. Rang zwei für Sachsen-Anhalts Landeschef Reiner Haseloff, der Kleingruppen zulässt, ohne das vorher anzukündigen.

Platz eins aber geht an Ministerpräsident Stephan Weil, Niedersachsen, der seine Gastronomie öffnen lässt und damit das ganze Theater der Bund-Länder-Koordinierung mitsamt Kanzlerin als absurdes Schauspiel entlarvt. Diesen Wettbewerb hätte es nicht geben dürfen. Viele Ministerpräsidenten tun und lassen mittlerweile, was sie wollen.

Rechtlich ist das zulässig, politisch ist es ein Debakel. Die stundenlange Koordination in immer kürzeren Abständen untereinander und mit der Kanzlerin produziert Beschlüsse und Zeitpläne, die das Papier nicht wert sind, auf dem sie hinterher verteilt werden.

Sie dienen nur noch als Vorlage dafür, an welcher Stelle man sich als Ministerpräsident absetzen kann. Föderalismus ist immer ein mühsames Geschäft. In Zeiten von Corona aber gilt erst recht: So viel Koordination wie nötig, so viel Eigenständigkeit wie möglich.

Von der ersten Krisensitzung an haben sich Kanzlerin und Ministerpräsidenten auf einen gemeinsamen Rahmen verständigt. Und von Beginn an gab es Länder, die einzelne Regelungen früher oder später in Kraft setzten, enger oder weiter auslegten. Je strenger sich ein Ministerpräsident aufführte, desto mehr flogen ihm die Herzen der verunsicherten Bevölkerung zu.

Von einer gemeinsamen Strategie kann keine Rede mehr sein

Das hat Markus Söder einer Kanzlerkandidatur so nahe gebracht, dass er seine eigenen Abstandsregeln kaum noch einhalten kann. Aber die gemeinsame Strategie der Eindämmung blieb doch erkennbar.

Bei den Lockerungen gestaltet sich das komplizierter, auch weil die gesellschaftlichen Interessen stärker in Kontrast stehen. Beim Runterfahren ahnte jeder: Es muss schnell gehen. Beim Hochfahren ist daraus eine Frage geworden: Wie schnell darf es gehen? Darauf geben immer mehr Ministerpräsidenten sehr unterschiedliche Antworten.

Von einer gemeinsamen Strategie kann keine Rede mehr sein. Es geht nicht darum, dass Regionalisierung grundsätzlich falsch wäre. Es geht darum, dass 16 Ministerpräsidenten sich gerade dafür noch intensiver koordinieren müssten. Jede Lockerung hat Folgen.

Niedersachsen hat es selbst erlebt: Als man die Baumärkte geschlossen hielt, fuhren die Heimwerker ins nächste Bundesland. Jetzt kommen bald Hungrige aus dem mit Corona stark belasteten Hamburg zum Essen nach Niedersachsen. Jede Lockerung nützt der Popularität desjenigen, der sie verfügt - aber sie setzt auch 15 Kolleginnen und Kollegen unter Rechtfertigungsdruck, warum sie anders entscheiden.

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Dabei steht nicht der Föderalismus auf dem Spiel, wohl aber der Eindruck von Vernunft, den die Politik als Ganzes bislang in der Krise hinterlassen hat. Am meisten brüskieren die Ministerpräsidenten die Kanzlerin. Wenn die Umsetzung der ersten Lockerungen aus Angela Merkels Sicht manchenorts schon "zu forsch" war, was sind dann die Alleingänge dieser Tage? "Akzente" oder "Nuancen", wie sie ihren Sprecher sagen ließ?

Am Mittwoch sitzen sie alle wieder brav in der Video-Runde. Aber wenn Merkel danach die Beschlüsse verkündet, denken sich einige Regierungschefs wohl insgeheim schon: Ach, lass sie reden.

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:Corona-Lockerungen: Ihre Meinung zu den Alleingängen der Ministerpräsidenten

Die Ministerpräsidenten brüskieren mit ihren Alleingängen die Bundeskanzlerin von Tag zu Tag mehr. Auf der Strecke bleibe die Vernunft, den Schaden werde die Politik als Ganzes haben, kommentiert SZ-Autor Nico Fried.

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