Demonstranten:Wut, Kritik und Bergkristalle

Nicht links, nicht rechts, nicht spinnert, das sagen die Protestierenden über sich selbst. Aber wann wird aus Misstrauen gegen die Regierung Verschwörungs­geraune?

Von Ulrike Heidenreich und Claudia Henzler, München/Stuttgart

Demonstranten: Im vorgegebenen Abstand zueinander protestierten Mensch und Tier am Samstag auf der Münchner Theresienwiese.

Im vorgegebenen Abstand zueinander protestierten Mensch und Tier am Samstag auf der Münchner Theresienwiese.

(Foto: Stephan Rumpf)

Frau Jonas hält ein bunt gestaltetes Plakat mit Blümchen hoch, darauf steht "Gegen Virus Blinder Gehorsam". Sie sagt, ihr Herz schlage weder rechts noch links, eine Impfgegnerin sei sie auch nicht und diese Verschwörungstheorien, nun ja, die seien ihr dann doch eher unheimlich. Warum Johanna Jonas, 66, hier auf der Münchner Theresienwiese gegen die Corona-Einschränkungen demonstriert? "Ich finde die Abstandsregeln richtig, mir fehlt jedoch der soziale Kontakt - und wegen der Maskenpflicht sehe ich kein Lächeln mehr." Die pensionierte Sozialpädagogin hat vor wenigen Wochen einen Schicksalsschlag erlitten. Ihr Mann starb, es gab keine feierliche Beerdigung und aufgrund der Kontaktbeschränkungen saß sie mutterseelenallein in ihrer Wohnung. Normalerweise veranstaltet sie Singkreise und Tanzkurse für Senioren. Die fallen jetzt weg, so sind die Senioren einsam und Johanna Jonas auch. "Ich möchte nicht, dass jemand darüber entscheiden darf, wohin ich gehe."

An diesem Wochenende, an dem die Bundesliga mit Geisterspielen startet, in einer Zeit, in der nach und nach Auflagen gelockert und Grenzen geöffnet werden, finden sich Tausende Menschen in deutschen Städten zusammen, um gegen die Corona-Einschränkungen zu demonstrieren. Stuttgart, München, Hamburg, Frankfurt, Berlin, das sind die größten Kundgebungen, hinzu kommen viele in kleineren Städten.

Ist die Corona-Maske Mundschutz oder doch Maulkorb? - das ist hier die Frage

In München strömen die Menschen aus der U-Bahn in Richtung Theresienwiese. Manche Demonstranten tragen Maske, andere nicht. Die Maske, Mundschutz oder Maulkorb? - das ist hier die Frage. Eigentlich hatten die Veranstalter 10 000 Menschen versammeln wollen. Aus Infektionsschutzgründen schritten die Behörden ein, genehmigten nur 1000. In Stuttgart hatten die Organisatoren gar 500 000 Demonstranten angemeldet, genehmigt wurden 5000. Eine schwierige Abwägung mit dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit.

Die Fläche in München ist dann am Nachmittag schon vor Demo-Beginn voll, außerhalb der Absperrungen reihen sich noch einmal 2500 Leute auf. Auf der Theresienwiese selbst wachen Ordner über die Einhaltung des Mindestabstands. Auf der Bühne spielt eine Band, erst "Aquarius" aus dem Musical Hair und dann das schöne Volkslied "Die Gedanken sind frei".

Akkurat im Abstand zu einem Flatterband wartet eine Dame mit einem sehr großen Plakat, darauf unter anderem der Satz: "Ich wünsche uns allen Respekt voreinander und dass wir unser Recht auf ein eigenständiges Denken, auf Selbstbestimmtheit und Selbstverantwortung auch in der Krise nutzen". Ihren Namen will die 53-Jährige besser nicht sagen ("Schlecht für mein Dorfkarma."), nur dass sie aus Buchloe im Allgäu kommt und als Angestellte in der Gesundheitsprävention arbeitet. Sie ist mit dem Auto nach München gefahren. "Mit dem großen Plakat habe ich mich nicht in den Zug getraut." Dreimal sei sie auf dem Weg vom Parkplatz bis zur Theresienwiese angepöbelt worden. Noch nie zuvor war sie auf einer Demo. Noch nie zuvor habe sie sich politisch engagiert. Aber jetzt ist sie hierher gekommen. "Das Zwischenmenschliche hat sich verändert, innerhalb von nur acht Wochen werden wir in Kluge und Dumme unterteilt."

Wie kann das besser werden? "Wir müssen vom Wegsperren wegkommen, wir brauchen Lockerungen mit Hirn." Wie sie sich informiert? "Tagesschau, Internet. Aber ich weiß nicht, ob das alles auch stimmt, was ich da höre."

Apropos Zugfahren und öffentliche Verkehrsmittel: Am Wochenende sorgte die Durchsage eines ICE-Zugbegleiters für Furore. Als "Hinweis an alle Verschwörungstheoretiker bei uns an Bord" sagte er mit Verweis auf die Maskenpflicht im Zug: "Denken Sie bitte daran, dass die Bundesregierung heimlich Speichelproben sammelt, um Klone von Ihnen zu produzieren, die Sie dann ersetzen sollen."

Kilian, gerade 18 Jahre alt geworden, beschwert sich, dass er als Linker, Rechter oder Verschwörungstheoretiker verunglimpft werde, nur weil er an dieser Demo teilnehme. Er macht kommendes Jahr Abitur, trägt einen Button mit der Aufschrift "Für Freiheit und Selbstbestimmung" und hat seine Mutter Susanna mitgebracht. Sein Anliegen: "Ein Immunitätsausweis schafft zwei Gesellschaften, das ist ungerecht. Die Impfpflicht sehe ich als Körperverletzung. Die Tracking-Apps sind ein schlimmes Instrument der Politik."

Warum machen die Politiker so etwas? Kilian und seine Mutter überlegen: "Vielleicht fließt Geld von der Pharmaindustrie. Es wird versteckt, was wirklich dahintersteckt." Wie sich der Schüler informiert? "Ich sehe mir die Livestreams von Corona-Demos von Carolin Matthie auf Youtube an." Die Berliner Influencerin Matthie, 27, ist Nachwuchs-Hoffnung der AfD.

Die Regierung sei zu autoritär, sagt einer. Mehr Transparenz und Aufklärung fordern andere

Demo-Teilnehmer wie Johanna Jonas, Kilian und die Frau aus Buchloe wissen, dass um sie herum an diesem Tag viele Menschen ernsthaft davon überzeugt sind, dass die Bundesregierung die Pandemie nutzt, um die Bevölkerung in Deutschland zu unterdrücken. Dass Bill Gates und seine Helfer das Virus gezüchtet haben und eine Impfdiktatur planen. Dass Medien und Künstler eine satanistische Weltverschwörung planten. Sie wissen, dass immer die Gefahr besteht, dass rechtsradikale und linksradikale Gruppen die Demos kapern. Kilian zuckt ratlos mit den Schultern, schaut sich um und sagt: "Es sollten noch mehr Menschen demonstrieren."

Die, die hier demonstrieren, verstehen nicht, warum die Mehrheit so klaglos Beschränkungen ihres täglichen Lebens hinnimmt. Verfolgt man die Diskussionen auf dem Platz mit anderen, die die Auflagen von Bund und Ländern für richtig halten - meist in gebührendem Abstand voneinander und mit angehobener Lautstärke geführt -, wird klar, warum diese Debatte überall, auf der ganzen Welt, so schwierig ist. Gesicherte Fakten und kritischer Geist vermengen sich mit Gerüchten, Theorien, puren Erfindungen - und mit Aggression.

Ziemlich entspannt hockt hingegen ein Elternpaar mit fünf Kindern, zwischen fünf und 13 Jahren alt, vor der Bühne. Am bunten Plakat haben offensichtlich alle mitgebastelt: "Distancing kostet Lebenszeit von Jung & Alt" steht drauf. Der Mann ist Buchhalter, seine Frau Beamtin, sie bleiben auch lieber namenlos. Warum sind all die Leute hier? Kommt da jetzt etwas raus, was schon länger rausmusste? Sind das hier nun Versprengte oder ist dies der Anfang einer neuen Bewegung? Der Buchhalter sagt: "Ich will nicht die Selbstverantwortung abgeben an den Staat und eintauschen gegen Sicherheit."

Auf dem Cannstatter Volksfestplatz in Stuttgart findet währenddessen schon die dritte Großdemo seit Ausbruch der Pandemie statt. Frauen und Männer in gelben Warnwesten verteilen "positiv geladene Bergkristalle". Ein älterer Mann mit Bart steigt von seinem Rad ab, den Helm noch auf den Kopf und liest sich durch, welche Regeln für die Demo gelten - 2,50 Meter Abstand zwischen den einzelnen Grüppchen zum Beispiel: "Das dient nur dazu, die Leute zu verarschen", schimpft er und schiebt sein Rad an der Absperrung vorbei. "Dieses SED-Weib", er meint die Kanzlerin, "gehört weg." Die Bergkristalle lässt er liegen.

Die Organisatoren von der Initiative "Querdenken 711" mögen Medien nicht besonders. Veranstalter Michael Ballweg, ein IT-Unternehmer aus Stuttgart, beginnt seine Rede wie schon beim letzten Mal mit einer ausführlichen Medienschelte. Ballweg wirft den Journalisten unter anderem vor, alle Demonstrationsteilnehmer in einen Topf zu werfen und als Verschwörungstheoretiker und Spinner zu bezeichnen. Wenn Reporter Demonstranten fragen, warum sie heute auf dem Wasen sind, haben viele keine Lust, etwas zu sagen. Ein Mann, der auf sein weißes Poloshirt die Worte "Widerstand gegen blinden Gehorsam. Denke selbst und handle danach", gedruckt hat, blafft nur: "Denken Sie sich doch was aus, das machen Sie doch sonst auch." Die Menge auf dem Gelände ist bunt. Viele Leute haben Picknickdecken und Campingstühle mitgebracht. Sie verteilen sich locker auf der Fläche. Die Polizei lässt kurz nach Beginn keine weiteren Besucher ein. Einige Besucher haben Kinder mitgebracht, die meisten Teilnehmer sind jenseits der 40, viele deutlich älter. Ein jüngerer Demonstrant ist aus Tübingen angereist. Er studiert Mikrobiologie und ist nicht der Ansicht, dass das Coronavirus völlig ungefährlich ist. Ihn stört aber, "dass mir die Regierung momentan deutlich zu autoritär ist". Es werde zu stark mit Einschüchterung gearbeitet. Eine Alternative wäre für ihn das schwedische Modell, wo die Bürger freiwillig Abstand halten.

Nicht jeder Demonstrationsteilnehmer hier steht hinter allem, was auf der Bühne gesagt wird. Doch die meisten jubeln, wenn per Videoeinspielung der Arzt Wolfgang Wodarg gezeigt wird und Dinge sagt, die nachweislich falsch sind, etwa, dass das Coronavirus ungefährlicher sei als die Grippe und dass man gar nicht merken würde, dass das Virus sich verbreite, wenn es keinen Test dafür gäbe.

Zwei Frauen, die sich als Andrea, 56, und Maria, 57, vorstellen, wünschen sich vor allem "mehr Transparenz" und "mehr Aufklärung". Von ihren Freunden wüssten viele nicht mehr, was sie nun dürfen und was nicht. Am häufigsten sind auf dem Wasen Schilder zu sehen, die sich gegen eine Impfpflicht aussprechen. Andrea und Maria jedoch haben sich Pappschilder umgehängt, mit einem großen Herz und den Worten "Licht, Liebe" und "Freiheit, Frieden".

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