Europa:Merkels Wende

Die Kanzlerin hat sich um 180 Grad gedreht. Hilfen für EU-Länder gab es bislang stets nur als Kredite, gegen Auflagen. Jetzt will sie auf einmal mit deutschem Steuergeld Italien und Spanien finanzieren. Wieso?

Von Cerstin Gammelin

Ein Jahr vor dem absehbaren Ende ihrer Kanzlerschaft hat Angela Merkel eine radikale Wende in ihrer Europapolitik vollzogen - im positiven Sinne. Sie hat sich abgewendet vom Mantra vergangener Krisenjahre, das der frühere französische Präsident Nicolas Sarkozy einst mit chacun sa merde zusammengefasst hat: Jeder hilft sich selbst, Notkredite nur gegen harte Auflagen.

Der deutsch-französische Plan für einen Wiederaufbaufonds Europas ist das genaue Gegenteil. Er liefert Zuschüsse für die besonders vom Coronavirus betroffenen Regionen Europas, finanziert über Schulden aus dem EU-Haushalt. Es ist eine Kehrtwende in letzter Minute. Sie ist, anders als manche jetzt kritisieren, nicht ein großes Zugeständnis an die Südeuropäer, sondern liegt im ureigenen deutschen Interesse. Alles spricht dafür, dass die Kanzlerin aus einer Mischung von kühler Kalkulation und tiefster Überzeugung gehandelt hat - und sicherlich auch aus dem Begehren, nicht als Regierungschefin in die Geschichte einzugehen, in deren langer Amtszeit Europa zerbrochen ist.

Merkel, der Physikerin aus dem Osten, müssen die Corona-Wochen in stillen Augenblicken regelrecht unwirklich vorgekommen sein. Alles, was vor gut 30 Jahren über den Fall der Mauer hart erkämpft worden war, schien sich zu verflüchtigen. Merkel hat immer wieder durchklingen lassen, wie schwer sie sich damit getan hat, persönliche Freiheiten der Bürger einschränken zu müssen, um das Virus einzudämmen. Einst hatte man sich geschworen, nie wieder hinter einer Mauer eingeschlossen zu sitzen. Dass ausgerechnet eine Ostdeutsche wieder Grenzen einführen musste, erschien wie eine böse Ironie der Geschichte. Verständlich, dass die Kanzlerin die neuen Mauern so schnell wie möglich wieder loswerden wollte.

Den wesentlichen Schub für Merkels Wende hin zum europäischen Aufbaufonds dürfte ihr die Erkenntnis geliefert haben, dass die großen Selbstverständlichkeiten, die auch in Deutschland für Wohlstand sorgen, auf der Kippe stehen: grenzenloses Reisen, grenzenloser Handel und der Euro. Dazu dürfte ihr klar geworden sein, dass es nur noch mithilfe der stärksten und stabilsten Volkswirtschaft Europas, der deutschen, gelingen kann, diese negativen Folgen der Pandemie zu verhindern. Und dass sie, Merkel selbst, die als Kanzlerin im Moment beliebt ist wie lange nicht, sich mit ganzer Kraft einsetzen muss, um ihre eigene Partei für den Fonds zu gewinnen.

Nur wenn Europas Binnenmarkt wieder läuft, geht es auch Deutschland gut

Eine exportorientierte Wirtschaft wie die deutsche kann nur funktionieren, wenn es Absatzmärkte gibt. Wo sind diese noch zu finden? Der Handel mit den USA ist eingebrochen, der asiatische Markt ein Schatten seiner selbst. Übrig bleibt der europäische Binnenmarkt, rechnerisch der größte weltweit. Geht es ihm gut, kann es Deutschland gutgehen. Der Wiederaufbaufonds, der Ländern wie Italien und Spanien helfen soll, ihre Wirtschaft zu stärken und die Infrastruktur zu erneuern, hilft am Ende also auch Deutschland, weil es dorthin wieder exportieren kann.

Ob der Fonds funktioniert, wird davon abhängen, dass das Kleingedruckte stimmig verhandelt wird, dass jedes Land nur für die eigenen Haushaltsbeiträge haftet, dass Schulden getilgt werden und Zuschüsse dahin fließen, wo sie europäischen Mehrwert bringen. Merkel hat all dies in der Hand. Sie übernimmt im Juli die EU-Ratspräsidentschaft. Es kann ein großes Finale ihrer Kanzlerschaft werden.

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