Tiergarten-Mord:Der unsichtbare Angeklagte

Tiergarten-Mord: Eine Linie nach Moskau? Die Ermittler machen Russlands Staatsführung um Wladimir Putin für den Mord im Kleinen Tiergarten verantwortlich.

Eine Linie nach Moskau? Die Ermittler machen Russlands Staatsführung um Wladimir Putin für den Mord im Kleinen Tiergarten verantwortlich.

(Foto: Maxim Shipenkov/AFP)

Die Bundesanwaltschaft hat nicht nur den mutmaßlichen Täter im Visier - sondern auch den obersten Mann im Kreml.

Von Florian Flade, Georg Mascolo und Ronen Steinke, Berlin

Es ist für diese Republik eine höchst ungewöhnliche Anklage, die ein Jurist in purpurfarbener Robe am Mittwoch im Saal 700 des Berliner Kammergerichts verlesen hat. Die Bundesanwaltschaft will einen Mann des Mordes überführen. Das wäre vermutlich noch vergleichsweise einfach, es gibt Augenzeugen und viele Spuren, die zu diesem Mann hinführen, dem russischen Staatsangehörigen Wadim Nikolajewitsch K. Darüber hinaus wollen die Ankläger aber auch eine Verbindungslinie direkt zur politischen Führung in Moskau ziehen.

Ein J'accuse in Richtung der russischen Staatsführung um Wladimir Putin, die dem Killer den "Auftrag erteilt" haben soll, einen Exil-Tschetschenen am 23. August 2019 mitten im Berliner Kleinen Tiergarten zu "liquidieren" - das würde aus Sicht der Bundesregierung drastische Konsequenzen nach sich ziehen müssen. Es muss deshalb juristisch gut abgesichert sein. Umso bemerkenswerter ist, worauf sich die Anklage stützt. 67 Seiten umfasst die Anklageschrift, und an entscheidenden Stellen führt sie als Belege für die mutmaßlich steuernde Hand aus Moskau nicht die eigenen Ermittlungen deutscher Behörden an. Sondern die Arbeiten der Journalistenplattform Bellingcat , die 2014 in Großbritannien gegründet worden ist. Private Rechercheure.

Der ganze deutsche Sicherheitsapparat ist mit dieser Ermittlung befasst gewesen, Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst (BND), Bundeskriminalamt und auch das Berliner Landeskriminalamt. Entscheidende Fortschritte aber, das legt zumindest die schriftliche Beweisführung nahe, verdankten die Ermittler letztlich den Leuten von Bellingcat, die ihre Enthüllungen im vergangenen Herbst zuerst in Kooperation mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel veröffentlichten. Mehr als 70 der insgesamt 243 Fußnoten in der Anklageschrift verweisen auf sie.

Es sind starke Indizien, die auf einen geheimdienstlichen Hintergrund der Mordtat hindeuten. Da ist ein dubioser, erst kürzlich ausgestellter russischer Pass. Da sind alte Fahndungsfotos des Angeklagten, die ihn als Soldaten ausweisen. Wenn es um diese Indizien geht, berufen sich die Ermittler aber immer wieder auf einen Bellingcat-Rechercheur. Zu seinem Schutz nennen sie ihn nur den Zeugen G. Eine solche Vertraulichkeit ist nach der Strafprozessordnung möglich, wenn "Leib oder Leben" des Zeugen in Gefahr sein könnten. Dabei schrieb der Spiegel in dieser Woche selbst, dass Bellingcat sich entschieden habe, "einen Teil seiner eigenen Recherchen mit den deutschen Ermittlern zu teilen". Wenn es um die Aufklärung von staatlichen Verbrechen geht, hat Bellingcat in der Vergangenheit immer wieder wertvolle Arbeit geleistet.

Vier Tage lang ist der Bellingcat-Mann G. von Beamten des Berliner Landeskriminalamts vernommen worden und dann noch einmal über den Zeitraum von fünf Tagen in der deutschen Botschaft in Wien. Eine ungewöhnlich gründliche Befragung. Der Bellingcat-Rechercheur selbst beschreibt dies als eine Art freundlicher Nachhilfe. Er habe den Deutschen nur erklärt, wo sie Dinge suchen müssten. Dabei soll er ihnen nicht nur seine Recherchen erläutert, sondern ihnen auch Dinge übergeben haben, etwa Excel-Tabellen, Screenshots aus russischen staatlichen Datenbanken, Meldedaten und Informationen zum Pass des Verdächtigen - und sogar dessen vertrauliche Steuerakte aus Russland.

Man sei "getrieben" gewesen von diesen Enthüllungen, die zuerst auf Spiegel.de erschienen, heißt es in Ermittlerkreisen ohne Umschweife. Darin steckt ein großes Maß an Anerkennung, das bis in die Bundesregierung hinein reicht. Zwar hätten sich die Ermittler letztlich nie auf das bloße Wort der Bellingcat-Rechercheure verlassen, so wird betont. Alle Angaben habe man in einem steten, aber diskreten Austausch zwischen der Bundesanwaltschaft und dem BND nachgeprüft und auch nachprüfen können - mit einer Einschränkung. Wie Bellingcat ursprünglich an seine Informationen kam, blieb teils im Dunkeln.

Aber diese Enthüllungen bildeten fast immer den "Ausgangspunkt" für die Ermittler. Das heißt, Bellingcat ging voran, die Ermittler folgten. So haben sich das Bundesamt für Verfassungsschutz und der BND intern auch immer wieder der unangenehmen Frage stellen müssen, wie es denn sein könne, dass die privaten Rechercheure aus Großbritannien an Informationen kamen, welche die deutschen Spionagedienste nicht haben. Und auch der Bellingcat-Rechercheur G. selbst nennt es auf Nachfrage "peinlich, wenn es so sein sollte, dass die deutschen Ermittler wirklich nicht genügend eigene Quellen haben".

Eine mögliche Erklärung aus Sicht deutscher Regierungskreise ist, dass die Bellingcat-Leute - insgesamt dürfte es ein Team von etwa 70 Personen sein, die sich aus Spendenmitteln finanzieren - in Russland mit viel höheren Schmiergeldsummen hantieren, als dies die deutschen Agenten können. Die Bellingcat-Truppe gibt an, seit 2014 mehr als tausend staatliche russische Datensätze "angekauft" zu haben. Bestechen dürfen die deutschen Spione zwar auch. Aber wegen einer gesetzlichen Vorschrift, die ursprünglich für die sogenannten V-Leute des Verfassungsschutzes geschaffen wurde, sind dem BND dabei Grenzen gesetzt. BND-Informanten dürfen von dem Bakschisch nicht ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Hinzu kommt, dass die deutschen Dienste sich in der Vergangenheit wenig für russische Passämter oder Steuerbehörden interessierten. Der BND beschäftigt zwar mehr als 6000 Mitarbeiter, speziell bei der Auswertung offen zugänglicher, gehackter Daten im Darknet ("open source intelligence") erkennt man aber einen Vorsprung von Bellingcat an. Hier hat die für Russland zuständige Abteilung des BND in der Vergangenheit viel weniger investiert als etwa in die Beobachtung des Militärs.

Und hier rächt sich womöglich auch, dass der BND viele Jahre lang keine sogenannte Gegenspionage mehr betrieben hat. Gemeint ist das Anwerben von Doppelagenten, also Informanten aus dem Inneren der russischen Dienste FSB, GRU und SWR, um mehr über das Innenleben dieser Dienste, ihre Aktionen und Pläne zu erfahren. Anfang der 2000er-Jahre war die Gegenspionage abgeschafft worden. Erst Anfang 2018 - in der Zeit, als der ehemalige russische Spion Sergej Skripal und seine Tochter im britischen Salisbury vergiftet worden waren - hat der BND wieder damit begonnen, ein Referat für Gegenspionage aufzubauen.

Ob die von Bellingcat zutage geförderten Indizien wirklich ausreichen, um die Vorwürfe gegen "staatliche Stellen der Zentralregierung der Russischen Föderation" zu belegen, wie es in der Anklage heißt, das werden jetzt unabhängige Richter entscheiden. Im Saal 700 des Kammergerichts Berlin hat der Prozess am Mittwoch gerade erst begonnen. Der Bellingcat-Rechercheur G. zumindest erklärt auf Nachfrage, er werde nicht in den Zeugenstand nach Berlin kommen. Er habe dies den Ermittlern auch bereits mitgeteilt. "Es ist keine angenehme Situation für mich." Die Bundesanwaltschaft sagt: Davon wisse man bislang nichts.

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