Blockade beim EU-Haushalt:Verhärtete Fronten, geringe Spielräume

Von Ungarn und Polen verraten, bedroht oder erpresst? Solche Worte wollen nach dem Video-Gipfel weder die Kanzlerin noch Ratspräsident Michel verwenden. Eine Lösung im Streit um den EU-Haushalt ist nicht in Sicht.

Von Karoline Meta Beisel, Björn Finke, Nico Fried und Matthias Kolb, Brüssel/Berlin

Die Kanzlerin hielt sich an die Chronologie. Eigentlich wollten die Staats- und Regierungschefs der EU in ihrer Videokonferenz über die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie sprechen, doch nach Viktor Orbáns und Mateusz Morawieckis Doppel-Veto gegen den EU-Haushalt rückte das in den Hintergrund. Also begann Angela Merkel ihre Pressekonferenz um kurz nach 21 Uhr mit dem Rechtsstaatsmechanismus, der Ungarn und Polen so erzürnt, dass sie die EU an den Rand einer schweren Krise bringen.

Ein Durchbruch bei dem Thema war nicht erwartet worden, denn erfahrene EU-Diplomaten hatten schon vorab betont, dass solch eine Videokonferenz nicht das geeignete Format sei, "um so ein kompliziertes Thema zu besprechen". Nur fünf Wortmeldungen gab es: Nach Merkel, die für die deutsche Ratspräsidentschaft die Ausgangslage beschrieb, sprachen EU-Ratspräsident Charles Michel sowie die drei Kritiker. Neben dem Ungarn Orbán und Morawiecki aus Polen lehnt auch Janez Janša, der rechtspopulistische Premierminister aus Slowenien, den Mechanismus ab. Bei der Videokonferenz war der Ton nun höflich und sehr respektvoll, ohne echte oder inszenierte Emotionen oder Dramatik.

Fördergelder der EU können künftig gekürzt werden, wenn bei Ländern der Rechtsstaat nicht funktioniert

Routiniert referierte Merkel später in Berlin, dass man wegen der Blockade durch Polen und Ungarn die nötigen Unterlagen nicht an das Europaparlament habe weiterleiten können, weshalb dieses noch nicht abstimmen könne. Da Deutschland bis Jahresende die Ratspräsidentschaft innehat, werde sie sich weiter um eine Lösung bemühen, sagte Merkel. Wie verhärtet die Fronten und wie gering die Spielräume sind, wurde durch einen späteren Satz klar: "Ich habe allerdings auch deutlich gemacht, dass wir glauben, mit dem Kompromiss mit dem Europäischen Parlament einen sehr guten und ausgewogenen Kompromiss gefunden zu haben."

Und seit Orbán und Morawiecki ihr Veto eingelegt haben, werden die EU-Abgeordneten täglich stolzer auf jenes Instrument, das sie ausgehandelt haben. Es sieht vor, dass EU-Fördergelder künftig unter bestimmten Bedingungen gekürzt werden können, wenn in den Empfängerländern der Rechtsstaat nicht funktioniert. Vor der Videokonferenz teilten die Fraktionschefs per Brief mit, dass die Vereinbarungen zum Haushalt und zum Rechtsstaatsmechanismus "fertig ausgehandelt sind und in keinem Fall wieder aufgemacht werden können".

Zugeständnisse sind kaum zu erwarten, was erklärt, wieso die Bundeskanzlerin nicht mit einer schnellen Einigung rechnet. Ja, man wolle "alle Optionen ausloten, die möglich wären", sagte sie und ergänzte: "Da stehen wir noch ganz am Anfang." Über einen Ausgang der Diskussionen und ob sie bis Weihnachten eine Einigung erzielen könne, wolle sie nicht spekulieren. Die Kanzlerin kündigte aber an, man werde "hart daran arbeiten".

Von der Leyen sagt, dass die Bürger und Unternehmen dringend auf das Geld warten

Drohungen gegenüber den Veto-Staaten wies Merkel als Option zurück. "Für mich ist das Wort Drohung in diesem Zusammenhang kein Wort." Man habe "die Aufgabe, einen Weg zu finden", sagte Merkel. "Das gehört nicht zu den einfachen Problemen, die wir lösen müssen."

In Brüssel gab EU-Ratspräsident Michel gemeinsam mit Kommissionschefin Ursula von der Leyen eine virtuelle Pressekonferenz - und beide wurden gefragt, ob sie sich von Polen und Ungarn "verraten oder erpresst" fühlten. Die Antwort des Belgiers? Er werde nichts sagen, was die Situation noch schwieriger machen würde. Es gelte, die Einigung des Marathongipfels vom Juli nun umzusetzen. Von der Leyen sagte, sie fühle sich weder betrogen noch verraten, sondern betonte, dass mitten in einer Rezession die Bürger und Unternehmen dringend auf diese Gelder warten würden.

"Die Magie der EU liegt darin, dass es ihr gelingt, Lösungen zu finden", sagt Ratspräsident Michel

Michel betonte, dass er an eine friedliche Beilegung des von Ungarn und Polen angezettelten Konflikts um den geplanten Rechtsstaatsmechanismus glaube. "Die Magie der Europäischen Union liegt darin, dass es ihr gelingt, Lösungen zu finden, selbst wenn man davon ausgeht, dass dies nicht möglich ist", sagte er. Es gebe aber den Willen, in den kommenden Tagen sehr intensiv zu arbeiten.

Er selbst wolle in unterschiedlichen Formaten Konsultationen zur Vorbereitung des kommenden EU-Gipfels Mitte Dezember organisieren, erklärte Michel. Verantwortlich für die eigentlichen Verhandlungen sei die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, die dabei von der EU-Kommission unterstützt werde. Von der Leyen äußerte sich ähnlich: Europa habe in sehr, sehr vielen kritischen Situationen am Ende doch eine Lösung gefunden, sagte sie.

Beim aktuellen Streit geht es um sehr viel Geld - und die Zeit wird knapp. Damit der Mehrjährige Finanzrahmen (MFR), eine Art grober EU-Haushaltsplan für die kommenden sieben Jahre, in Kraft treten kann, ist die Zustimmung aller Mitgliedstaaten nötig. Und dieses Placet verweigerten Polens und Ungarns EU-Botschafter am Montag: aus Verärgerung darüber, dass in dieser Sitzung der Rechtsstaatsmechanismus gegen ihren Willen per Mehrheitsbeschluss angenommen wurde.

Wenn Polen und Ungarn beim Veto bleiben, müsste Brüssel einen Nothaushalt nutzen

Rücken die beiden Regierungen nicht von ihrem Veto ab, hat die EU von Januar an keinen gültigen Haushalt mehr. In dem Fall würde Brüssel ein abgespecktes Notbudget nutzen, gemäß dem sogenannten System der vorläufigen Zwölftel. Geld steht dann nur noch für wenige Bereiche zur Verfügung: Gehälter und Verwaltungskosten, Subventionen an Landwirte, Entwicklungshilfe, Außen- und Sicherheitspolitik sowie humanitäre Notlagen.

Wie der Name des Systems vermuten lässt, wird die Höhe der monatlichen Etatposten bestimmt, indem die Ausgaben für 2020 durch zwölf geteilt werden. Für andere Programme, etwa zur Forschungsförderung, gibt es kein frisches Geld; das trifft auch auf die Strukturhilfen für benachteiligte Regionen zu, von denen zum Beispiel Polen massiv profitiert. Auf diesen Feldern werden Auszahlungen nur möglich sein für Projekte, die bereits vor dem Jahreswechsel begonnen haben.

Polen ist der mit Abstand größte Netto-Empfänger von EU-Mitteln

Zum Ärger von Polen und Ungarn würde der beschlossene Rechtsstaatsmechanismus auch für diesen Not-Etat gelten. Die beiden Regierungen hätten die Klausel dann nicht verhindert, müssten aber auf viel Geld verzichten. Polen ist der mit Abstand größte Netto-Empfänger von EU-Geldern und kassierte im vorigen Jahr zwölf Milliarden Euro mehr aus Brüssel, als von Warschau dorthin überwiesen worden war. Ungarn ist mit fünf Milliarden Euro der zweitgrößte Nutznießer. Deutschland wiederum steht am anderen Ende der Tabelle und ist mit 14 Milliarden Euro der wichtigste Netto-Zahler.

Daneben blockierten die EU-Botschafter von Ungarn und Polen am Montag den sogenannten Eigenmittelbeschluss. Der ist nötig, um den Corona-Hilfstopf zu füllen: Er würde es der EU-Kommission erlauben, für diesen Fonds erstmals im großen Stil Schulden aufzunehmen. Dem Beschluss müssen alle Regierungen und danach noch die meisten nationalen Parlamente zustimmen. Bis Jahresende ist das schon nicht mehr möglich, was aber nicht so dramatisch ist, weil der 750 Milliarden Euro schwere Hilfsfonds ohnehin erst später mit den Ausschüttungen beginnen soll.

Ungarn und Polen gehören auch hier zu den großen Nutznießern. Die allermeisten Zuschüsse sollen über ein neues EU-Programm verteilt werden, mit dem die Kommission staatliche Investitionen und Reformen fördern will. Allein aus diesem Programm sollen geschätzte 23 Milliarden Euro an Polen fließen und etwa sechs Milliarden Euro an Ungarn. Am stärksten sollen aber Italien und Spanien profitieren - Länder, deren Volkswirtschaften stark unter der Pandemie leiden.

Es gibt in Brüssel Ideen, wie der Corona-Fonds trotzdem noch gerettet werden könnte

In Brüssel kursieren bereits Ideen, wie der Corona-Fonds auch dann aufgesetzt werden kann, wenn Polen und Ungarn ihr Veto aufrechterhalten sollten. Der liberale Europa-Abgeordnete Guy Verhofstadt, von früher bekannt durch seine deftigen Brexit-Zitate, regt etwa an, dass die 25 anderen Regierungen die Methode der Verstärkten Zusammenarbeit nutzen sollten: Dieses Instrument ermöglicht einer Gruppe von EU-Staaten, in bestimmten Politikbereichen voranzuschreiten. Verhofstadt weiß, wovon er spricht: Er war jahrelang Regierungschef Belgiens.

Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte wiederum bringt als "nukleare Option" ins Spiel, den Hilfstopf außerhalb des EU-Rahmens aufzubauen, auf Grundlage eines Vertrages zwischen den 25 willigen Regierungen. Vorbild ist der Euro-Rettungsfonds ESM, den die 19 Staaten mit der Gemeinschaftswährung auf diese Weise etabliert hatten. Allerdings hätte dieser Weg gravierende Nachteile: So würde es viele Monate dauern, eine neue Institution zu gründen und die nötigen Verträge durch die nationalen Parlamente zu bringen. Die Auszahlung der Hilfen wäre ebenfalls mühsamer und könnte jedes Mal die Zustimmung nationaler Parlamente erfordern. Daher dient dieser Vorschlag wohl eher als Drohkulisse gegenüber Polen und Ungarn. Auch wenn die Bundeskanzlerin ja nichts von Drohungen gegen die beiden Staaten wissen will.

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