Covid-19:Die Gesellschaft ist immer noch verwundbar

Gesundheitspersonal

Mitarbeiter der Pflege behandeln einen Patienten mit Corona-Infektion auf der Intensivstation.

(Foto: Fabian Strauch/picture alliance/dpa)

Die Pandemie hat manches von ihrem Schrecken verloren. Doch die nationale Notlage ist noch nicht vorbei. Es ist daher richtig, dass die Regierung weiterhin schnell handeln kann.

Kommentar von Christina Berndt

Die Pandemie hat einiges von ihrer Bedrohlichkeit verloren. Dank der Impfungen sieht es so aus, als sei aus dem einst wilden, kaum zu bändigenden Untier ein zahmes Schäfchen geworden. Jedenfalls ist die Zahl der Neuinfektionen mit täglich einigen Tausend überschaubar, und auf den Intensivstationen liegen nur ein paar Hundert Menschen mit Covid-19.

Daher ist es verständlich, dass sich viele Parlamentarierinnen und Bürger fragen: Wo soll sie denn sein, die "epidemische Lage von nationaler Tragweite", die außergewöhnliche Rechte für die Regierungen von Bund und Ländern rechtfertigt? Deren Vorliegen es den Regierenden also möglich macht, im Alleingang und ohne Einbeziehung der Parlamente Maßnahmen zu erlassen und die Grundrechte auszuhebeln? Entsprechend viel Gegenrede gab es am Mittwoch im Bundestag gegen eine Verlängerung der Notlage, die am Ende nur mit den Stimmen der Regierungsfraktionen von Union und SPD festgestellt wurde.

Und doch ist es richtig, dass die Befugnisse der Regierungen noch einmal für drei Monate verlängert wurden. Denn eine gesundheitliche Notlage besteht weiterhin. Seit einiger Zeit schon lugt das Virus aus seinem Sommerloch hervor - wegen der aggressiven Delta-Variante angesichts der warmen Jahreszeit um Wochen zu früh. Die Infektionszahlen steigen wieder exponentiell, und wer 2020 nicht auf einer Exkursion ins All unterwegs war, dürfte wissen, was exponentielles Wachstum heißt: Von jetzt an werden die Zahlen Woche um Woche in die Höhe schnellen, solange keine neuen Maßnahmen erhoben werden. Schon bevor der Herbst begonnen hat, könnten Inzidenzen erreicht werden, wie man sie in Deutschland noch in keiner Welle gesehen hat.

Es stimmt nicht, dass eine Überlastung des Gesundheitssystems nicht mehr zu erwarten ist

Es ist schon wahr, dass die Inzidenzen dank der Impfungen einen guten Teil ihres Schreckens eingebüßt haben. Doch je höher die Zahl der Infektionen ist, desto mehr Menschen benötigen eine Behandlung im Krankenhaus, desto mehr Menschen müssen auf die Intensivstationen verlegt werden, desto mehr Menschen werden sterben. Das Verhältnis Infektion zu Tod wird in der vierten Welle gewiss nicht mehr 1:200, sondern vielleicht nur noch 1:2000 oder 1:20 000 sein, abhängig von der Effektivität der Impfungen, der Vulnerabilität jener Menschen, die noch ungeimpft sind, und der medizinischen Versorgungsmöglichkeiten. Aber bei einer Impfquote von cirka 60 Prozent sind immer noch 30 Millionen Menschen im Land ohne Schutz - viele von ihnen unfreiwillig, weil sie sich nicht impfen lassen können oder ihr Immunsystem zu schwach ist. Wenn es um Millionen geht, werden Promille zu beachtlichen Zahlen.

Es stimmt daher nicht, dass eine Überlastung des Gesundheitssystems nicht mehr zu erwarten sei, wie manche Oppositionspolitiker sagen. Wissenschaftler haben ausgerechnet, wie sich die vierte Welle entwickeln wird, wenn dem Virus kaum noch Grenzen gesetzt werden. Auch bei einer Impfquote von 65 Prozent, wie sie derzeit noch nicht einmal erreicht ist, gäbe es nie da gewesene Zahlen an Intensivpatienten.

Abgesehen davon, dass seit Monaten immer weniger Intensivbetten belegt werden können, weil das Personal fehlt: Es ist zu kurz gedacht, nur von Krankenhausaufenthalten und Todeszahlen zu reden. Viel zu viele Menschen entwickeln langanhaltende Corona-Folgen. Neben ihrem Leid gehören auch ihre ausfallende Arbeitskraft und ihre Behandlungskosten zu der medizinischen Notlage hinzu, die Deutschland nach wie vor trifft. Wenn man die Verwundbaren in der Gesellschaft also nicht aus den Augen verlieren und ihrem Schicksal überlassen will, braucht es schnelle Handlungsmöglichkeiten für die Regierenden.

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