Digitale Welt:Europas Kampf um Kontrolle

Former Facebook employee and whistleblower Frances Haugen testifies during a hearing entitled 'Protecting Kids Online: Testimony from a Facebook Whistleblower' in Washington

Frances Haugen soll bald vor einem Ausschuss des Europaparlaments aussagen. Die ehemalige Facebook-Mitarbeiterin hat mit ihrer Kritik am Konzern international Aufsehen erregt.

(Foto: Jabin Botsford/Reuters)

Die Internet-Giganten wollen ihre Nutzer beeinflussen, Brüssel will ihnen die Grenzen aufzeigen. Da kommt der Auftritt einer Whistleblowerin gerade recht. Es geht schließlich um zwei geplante EU-Gesetze, die zu Vorbildern in der Welt werden könnten.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Die dänische Europaabgeordnete Christel Schaldemose hielt schon Kontakt zu Frances Haugen, als diese noch ein Niemand war - und nicht die Whistleblowerin, die Facebook ins Wanken brachte. Auf diese Feststellung legt die Sozialdemokratin wert, was zeigen soll: In Brüssel weiß man, was in der digitalen Welt gespielt wird. Am 8. November soll Haugen vor einem Parlamentsausschuss über Facebook reden und über die Art und Weise, wie der Konzern mutmaßlich gesellschaftliche Spaltung, Gewalt und psychische Probleme seiner Nutzer in Kauf nimmt, um Geschäfte zu machen.

Der Auftritt spielt nicht nur der Abgeordneten Schaldemose in die Karten, die federführend ist in den Beratungen über neue Regeln für die digitale Welt, sondern kommt ganz Brüssel gelegen. Die EU will Geschichte schreiben, indem sie Facebook und den anderen Tech-Giganten die Grenzen aufzeigt.

"Von Game Changer" ist die Rede, von "Take back control". Die EU will die Spielregeln im Netz ändern, einheitlich für ganz Europa, und so von den US-Konzernen die Kontrolle zurückgewinnen über Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Weniger Hatespeech, weniger illegale Inhalte, mehr Selbstbestimmung, mehr Vielfalt. Wenn das so einfach wäre. Es geht um zwei Gesetzesvorhaben, die so sperrig sind, wie sie klingen: Digital Markets Act, kurz DMA, und Digital Services Act, kurz DSA. Ende 2020 von der Kommission vorgestellt, stecken sie jetzt in der Brüsseler Gesetzgebungsmaschinerie. Sie könnten der Welt zum Vorbild werden. Am Ende könnte aber auch großer Verdruss stehen.

DMA, das Gesetz für digitale Märkte, soll "Gatekeeper" einhegen. Dazu zählen Online-Plattformen, die mehr als 6,5 Milliarden Euro Jahresumsatz oder einen Kapitalmarktwert von mehr als 65 Milliarden haben, außerdem monatlich mehr als 45 Millionen private und mehr als 10 000 geschäftliche Nutzer. Die Giganten also. Die Kommission will sie streng beaufsichtigen und verhindern, dass sie ihre Marktmacht missbrauchen. So soll ihnen verboten werden, Nutzerdaten aus verschiedenen Diensten zusammenzuführen.

Die Lobbyistin spricht von einer "populistischen Debatte"

Mehr Aufmerksamkeit richtet sich derzeit jedoch auf DSA, das Gesetz für digitale Dienste, das die Rechte der Nutzer im Umgang mit den Plattformen stärken soll. Die Konzerne sind höchst alarmiert, denn auf dem Spiel steht ihr Geschäftsmodell: Algorithmen und personalisierte Werbung.

"Eine populistische Debatte" werde geführt, klagt Lobbyistin Siada El Ramly, die als Generaldirektorin des Branchenverbands DOT Europe die Interessen der Tech-Unternehmen in Brüssel vertritt. Die Grundlagen einer evidenzbasierten Politik habe man verlassen, seitdem das Parlament mit dem Gesetz befasst ist. Tatsächlich hat der zuständige Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz unter Führung der Abgeordneten Schaldemose deutliche Verschärfungen gefordert. Nun werden Stellungnahmen weiterer Ausschüsse eingeholt, und was sie von dort hört, macht El Ramly noch unfroher.

Bekümmert ist sie vor allem über Vorschläge, das "targeted advertising" einzuschränken oder zu verbieten, also die auf eine Personengruppe zugeschnittene Werbung. Weder gebe es ein gemeinsames Verständnis davon, was targeted advertising genau sei, noch gesicherte Erkenntnisse darüber, ob nicht vor allem kleine Unternehmen unter einem Verbot leiden würden.

Die Facebook-Affäre mache alles noch komplizierter, sagt Siada El Ramly. Die Facebook-Affäre sei "extrem hilfreich", sagt dagegen der deutsche Europaparlamentarier Patrick Breyer. Sie zeige, dass es falsch sei, auf Selbstregulierung durch die Konzerne zu bauen, wie es die Kommission tun wolle. "Deshalb müssen wir nun massiv nacharbeiten am Gesetzentwurf."

Breyer, der als Mitglied der Piratenpartei im Parlament der Fraktion der Grünen/EFA angehört, hat sich dem Kampf gegen den "Überwachungskapitalismus" verschrieben, gegen Konzerne, die durch massenhaftes Sammeln persönlicher Daten die Menschen manipulieren und ausbeuten. Es ist ein großes Anliegen im Klein-Klein des parlamentarischen Betriebs. Aber in der Stellungnahme des Innenausschusses, den Breyer als "Berichterstatter" im Gesetzgebungsverfahren an einflussreicher Stelle vertritt, finden sich bemerkenswerte Dinge.

Konzerne sollen die Algorithmen offenlegen

Aus guten Gründen wird das Papier von der Tech-Lobby als Beleg verwendet, wie weit das Parlament zu gehen bereit ist. Gefordert wird ein weitgehendes Recht auf Anonymität im Netz, ein Verbot von personalisierter Werbung für politische Zwecke. Personalisierte Werbung zu kommerziellen Zwecken soll massiv erschwert werden. Dass die Konzerne die Algorithmen offenlegen müssen, nach denen sie den Nutzern Inhalte zuspielen, und dass die Nutzer diese Algorithmen ausschalten können, scheint Konsens im Parlament zu sein.

Der Zeitplan sieht vor, dass das Parlament bis Ende des Jahres eine gemeinsame Haltung bildet und dann in die Verhandlungen mit Kommission und Ländern tritt. In der ersten Jahreshälfte 2022 soll demnach das Werk vollendet werden. Angesichts der vielen offenen Fragen erscheint das illusorisch. Lobbyistin Siada El Ramly prophezeit, der Eifer des Parlaments könne sich noch rächen. Wenn man, statt der digitalen Welt einen groben rechtlichen Rahmen zu setzen, ein sehr detailliertes Werk anstrebe, könnte das zu Rechtsunsicherheit und Chaos in der EU führen.

Tatsächlich planen mehrere Länder eigene Gesetze, und Deutschland hat bereits sein "Netzwerkdurchsetzungsgesetz" zur Bekämpfung von Hasskriminalität. Es müsste hinter europäischem Recht zurückstehen. In Deutschland formiert sich deshalb schon Widerstand, weil das EU-Gesetz nachlässigere Vorschriften zur Löschung illegaler Inhalte vorsehe. Der Abgeordnete Breyer empfiehlt, sich Zeit zu nehmen. "So eine Chance, das digitale Zeitalter in Einklang zu bringen mit unseren Werten, und das mit globaler Vorbildwirkung, besteht nur alle zehn Jahre."

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