Studie:Der Weg zu den Milliarden

Eine zeitgemäße Berechnung der erlaubten Staatsverschuldung könnte den Ampelkoalitionären den finanziellen Spielraum verschaffen, den sie brauchen.

Von Cerstin Gammelin

Kurz vor dem geplanten Abschluss der ersten Runde der Koalitionsverhandlungen hat FDP-Chef Christian Lindner noch einmal die "klaren finanzpolitischen Leitplanken" in Erinnerung gebracht und gesagt, er kenne "niemanden, der infrage stellt, dass der erste Haushalt einer künftigen Koalition allen Anforderungen an Solidität genügen muss."

Lindner hat damit den Ton gesetzt für eine finanzpolitisch entscheidende Woche. Die Koalitionsarbeitsgruppe Finanzen wird ihre Ergebnisse abliefern, die Steuerschätzer des Bundes ihre Kalkulationen. Man wird sehen, wie groß das Loch im Bundeshaushalt sein dürfte und wie SPD, Grüne und FDP das zum Regieren nötige Geld beschaffen könnten entlang der geeinten Leitplanken: Es darf keine Steuererhöhungen geben. Und ab 2023 soll die grundgesetzlich verankerte - hochkomplizierte - Schuldenbremse eingehalten werden, die die jährliche Neuverschuldung streng begrenzt. Verkürzt gesprochen, darf sich der Staat jährlich mit 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschulden. Dieser Betrag erhöht oder erniedrigt sich - abhängig von der Konjunktur.

Die Denkfabrik "Dezernat Zukunft" will an diesem Montag ein Gutachten vorlegen, das einen Weg aufzeigt, das Investitionsbudget teilweise auch mit der Schuldenregel zu erreichen. In dem Gutachten bestätigt Finanzverfassungsrechtler Stefan Korioth von der LMU München, dass es unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist, die Schuldenbremse unangetastet zu lassen, wie die Ampel das will - zugleich aber einzelne Faktoren zur Berechnung der erlaubten Schulden so zu reformieren, dass die Koalitionäre mehr Schulden machen dürften als bisher angenommen.

Im Zentrum der Reform steht die Berechnung, wie bestimmt wird, ob die deutsche Wirtschaft voll ausgelastet ist.

Bisher ist es so, dass sie als voll ausgelastet gilt, wenn sie heute so viele Güter und Dienstleistungen produziert wie in der Vergangenheit. "Das Potenzial der Wirtschaft gilt als erreicht, wenn die Menschen so viel arbeiten wie bisher", sagt Philippa Sigl-Glöckner, Direktorin der Denkfabrik. Das aber sei "nicht mehr zeitgemäß".

Sie schlägt vor, dass das Potenzial erst als ausgeschöpft gelten soll, wenn die Menschen überwiegend so viel arbeiten, wie sie tatsächlich möchten. Das wäre der Fall, wenn es kaum noch Menschen gebe, die unfreiwillig Teilzeit arbeiteten oder langzeitarbeitslos wären, und hierzulande so viele Frauen erwerbstätig wären im Vergleich zu Männern wie in Skandinavien.

Weil dieses Potenzial am Arbeitsmarkt nicht ausgeschöpft ist, läuft die Wirtschaft nach Ansicht der Forscherin nicht auf Hochtouren. Der Staat dürfte laut Grundgesetz also mehr tun, um sie dahin zu bringen - und dafür ein größeres Defizit machen. Er könnte beispielsweise mehr Geld in Kitas investieren und damit mehr Frauen in Jobs bringen.

Der moderne Ansatz versetzte die angehenden Koalitionäre nach Berechnungen der Denkfabrik in die Lage, jährlich knapp zwanzig Milliarden Euro mehr Schulden machen zu dürfen als nach bisheriger Auslegung. "Die Reform könnte ein sinnvoller Weg sein, da sie mehr Spielraum schafft und zugleich etwas für die Wirtschaft getan werden muss", sagt Sigl-Glöckner.

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