Krieg in der Ukraine:Die Zeit arbeitet gegen die Belagerten

Krieg in der Ukraine: Selbstverteidigung: Freiwillige füllen am Montag Sandsäcke am Strand von Odessa, um Objekte in der Stadt vor russischen Angriffen zu schützen. Am selben Tag wurde erstmals ein Vorort Odessas beschossen.

Selbstverteidigung: Freiwillige füllen am Montag Sandsäcke am Strand von Odessa, um Objekte in der Stadt vor russischen Angriffen zu schützen. Am selben Tag wurde erstmals ein Vorort Odessas beschossen.

(Foto: IMAGO/NurPhoto)

Offenbar rückt das russische Militär langsam, aber jeden Tag ein bisschen vor. Der ukrainische Generalstab teilt zugleich mit, dem Gegner schwere Verluste zuzufügen. Die Frage ist, wie lange die Verteidiger noch durchhalten können.

Von Nicolas Freund

Laut ukrainischem Generalstab und dem britischen Verteidigungsministerium steht es schlecht um die russische Offensive. Trotz der anhaltenden Angriffe und Bombardements fast im ganzen Land, hieß es auch zuletzt wieder, der Marsch auf Kiew sei zum Stillstand gekommen und im Osten des Landes seien eine ganze Reihe russischer Angriffe abgewehrt worden, teils mit weiteren schweren Verlusten für die russische Armee. Ukrainische Behörden forderten aber am Montag auch die Bevölkerung von Boryspil auf, die Stadt zu verlassen, "sobald sich die Möglichkeit dafür ergibt", wie der Bürgermeister per Video erklärte. Und Boryspil liegt nahe am internationalen Flughafen der Hauptstadt.

Diese Angaben sind vermutlich nicht falsch. Die meisten Meldungen aus der Ukraine lassen sich nicht überprüfen, viele werden aber von Fotos, Satellitenaufnahmen und anderen Quellen bestätigt. Der Krieg in der Ukraine ist trotz dieser oft unklaren Nachrichtenlage längst auch zu einem Krieg der Bilder und der Informationen geworden. Denn welche Version der Ereignisse verbreitet wird, hat direkten Einfluss auf Truppenmoral, westliche Unterstützung und die Verhandlungspositionen Russlands wie der Ukraine. Und im Moment dominiert, zumindest im Westen, die ukrainische Lesart des Krieges.

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Deshalb lautet das aktuell vorherrschende Narrativ: Weil die Russen ihre Invasion nicht auf die Reihe bekommen und die Ukrainer zu wenig westliche Unterstützung erhalten, hätten sich beide Seiten in eine Art Patt manövriert, allerdings mit leichter Tendenz zu einem möglichen Sieg der Ukraine, wie es auch in westlichen Medien inzwischen immer lauter verkündet wird. Aber kann dieses Bild stimmen, wenn ein großer Teil der Informationen von den ukrainischen Streitkräften kommt, die ein Interesse an dieser Darstellung haben?

Etwas Hoffnung, dass Zivilisten aus Mariupol entkommen können

Sönke Neitzel, Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam, ist vorsichtiger mit seiner Einschätzung der Lage. "Es herrscht das Bild vor: Die Ukrainer sind Helden, die Russen sind Dummköpfe und Verbrecher. Da ist wahrscheinlich auch was dran", sagt er der SZ am Telefon. "Aber wir wissen zu wenig, auch über die ukrainischen Streitkräfte. Welche Verluste hatte die Ukraine? Wie viel Munition haben sie noch? Wie viele Panzerabwehrraketen sind noch übrig? Wir wissen, dass Russland noch Tausende Kampfpanzer hat und seine moderne Luftwaffe noch gar nicht zum Einsatz gekommen ist."

Gerade die Luftangriffe Russlands sollen zu Beginn der Woche massiv zugenommen haben. Es ist alles andere als ausgeschlossen, dass die Angreifer das Blatt wieder wenden. Als ein mögliches Szenario nennt Neitzel einen Vorstoß Russlands von Charkiw nach Süden, was möglicherweise die Hälfte der ukrainischen Armee im Osten des Landes abschneiden und einkesseln würde. Neitzel betont aber: Wir haben derzeit zu wenig Informationen über den Zustand und die strategischen Möglichkeiten beider Armeen. "Die verzweifelten Hilferufe der ukrainischen Regierung weisen aber darauf hin, dass es vielleicht gar nicht so gut läuft", meint Neitzel.

Obwohl die Ukrainer vom Westen mit moderneren Waffensystemen ausgerüstet werden, könnte in einigen Fällen, wie im seit Wochen belagerten Mariupol, der Widerstand der ukrainischen Streitkräfte früher oder später nachlassen. Die Stadt steht unter einem Dauerbombardement, es fehlt an allem, Tausende Zivilisten sollen bei den Angriffen bereits getötet worden sein. Die russischen Truppen machen nach Angaben der ukrainischen Armee täglich kleine Fortschritte - und das reicht möglicherweise, um die Stadt irgendwann einzunehmen, denn die Russen haben im Gegensatz zu den belagerten Ukrainern Zeit. Ein wenig Hoffnung gibt es immerhin bei der Evakuierung Mariupols: Über gleich drei Fluchtkorridore sollten am Dienstag Busse Menschen aus der Stadt bringen.

Zuletzt schien es, als würde Russland auch an anderen Orten versuchen, neuen Druck aufzubauen. So will die ukrainische Spionageabwehr russische Saboteure abgefangen haben, die unter anderem ein Attentat auf den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij geplant hätten. Im bisher von Kampfhandlungen verschonten Odessa sollen erstmals auch militärische Einrichtungen beschossen worden sein. Und US-Präsident Joe Biden warnte, nach dem angeblichen Einsatz zweier Hyperschallraketen am Wochenende erwäge Russland nun auch den Einsatz von Chemiewaffen. Für den Fall, dass es trotz allem Ergebnisse bei Verhandlungen geben sollte, kündigte Selenskij an, dass er über Vereinbarungen mit Russland per Volksentscheid abstimmen lassen wolle.

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