EU-Gipfel:Erfolgsaussichten für die Ukraine, geringe Erwartungen für den Balkan

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Wolodimir Selenskij, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Olaf Scholz bei ihrer Pressekonferenz in Kiew. (Foto: LUDOVIC MARIN/REUTERS)

Die Staats- und Regierungschefs der EU entscheiden bei ihrem Spitzentreffen über den Kandidatenstatus für die Ukraine und die Perspektiven für andere beitrittswillige Staaten. Das wird heikel.

Von Björn Finke und Matthias Kolb, Brüssel

Natürlich wird die Ukraine auch bei der EU durch einen Botschafter vertreten. Doch anders als bei Andrij Melnyk, dem ukrainischen Vertreter in Berlin, ist der Name Wsewolod Tschenzow in Brüssel nicht sehr bekannt. Tschenzow arbeitet eher im Stillen und nicht mit Interviews. Nun beschreibt er jedoch der Süddeutschen Zeitung und einer Handvoll internationaler Medien, wie hoch die Erwartungen seines Landes an den EU-Gipfel sind, der am Donnerstag beginnt.

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"Die Männer fragen, wie es um den Kandidatenstatus steht, wenn sie von der Front anrufen", berichtet der 48-Jährige. Tschenzow ist optimistisch, dass die Staats- und Regierungschefs der Empfehlung der EU-Kommission folgen - und hat dazu allen Anlass. "Der Europäische Rat hat beschlossen, der Ukraine und der Republik Moldau den Status eines Beitrittskandidaten zu verleihen", heißt es im aktuellen Entwurf der Gipfelerklärung. Über "weitere Schritte" wollen die Leaders, wie man die Staats- und Regierungschefs in Brüssel nennt, erst entscheiden, wenn die verlangten Reformen in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung erfüllt sind. Auch über Georgien heißt es, dass die Zukunft dieses Landes "und seiner Menschen in der EU" liege.

Den Unterstützern der Ukraine macht auch Hoffnung, dass Ratspräsident Charles Michel in seinen Videokonferenzen, die er zur Gipfel-Vorbereitung mit jeweils einer kleinen Gruppe von Leaders abhält, wohl keine Einwände gehört hat - auch nicht vom Ungarn Viktor Orbán, dem notorischen Störenfried. Am Dienstag telefonierte Präsident Wolodimir Selenskij mit Orbán und dankte ihm auf Twitter für Ungarns Unterstützung. Als "besonders hilfreich" bezeichnet Tschenzow den Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz mit Italiens Premier Mario Draghi und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Kiew in der vergangenen Woche: Nachdem sich die drei größten EU-Länder für den Kandidatenstatus ausgesprochen hatten, habe sich die Debatte verändert, und die Skeptiker hätten eingelenkt. Als solche galten Portugal, die Niederlande oder Dänemark.

Insider erwarten nun, dass die Debatte über die EU-Perspektive für die Ukraine kürzer und weniger emotional verläuft. Natürlich wird Russlands Angriffskrieg mit allen Konsequenzen intensiv diskutiert werden - inklusive der gedrosselten Gaslieferungen Moskaus und den Drohungen gegen Litauen. Der Kreml verbreitet die Lüge, das EU-Mitglied blockiere Lieferungen in die Exklave Kaliningrad. Dem Entwurf der Gipfelerklärung zufolge werben die EU-Mitglieder "für eine weitere Erhöhung der militärischen Unterstützung" und neue Sanktionen gegen Russland. Hier dürfte es aber nur darum gehen, beschlossene Maßnahmen umzusetzen und Schlupflöcher zu schließen. Zudem soll die Ukraine für 2022 von der EU-Kommission ein Hilfspaket von neun Milliarden Euro erhalten.

Nordmazedonien droht eine Blockade

Brisanter könnte sich nun die Debatte über den Umgang mit dem Westbalkan entpuppen. Vor dem regulären EU-Gipfel wollten die Staats- und Regierungschefs der EU 27 mit den Vertretern der sechs Länder der Region zusammenkommen. Bis zum Mittwochmittag war nicht mal klar, ob die Regierungschefs aus Nordmazedonien, Serbien und Albanien nach Brüssel reisen. Auf Twitter hatte Albaniens Ministerpräsident Edi Rama geschrieben, was EU-Diplomaten ähnlich sehen: "Die ganze Union gekidnappt von Bulgarien ist kein Schauspiel, das man sich gerne ansehen würde! Was sollen wir dort?" Nun kommen sie doch, aber der Frust ist weiter groß darüber, dass Bulgarien seit Langem per Veto verhindert, dass die EU Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien beginnt - davon ist auch Albanien betroffen. Sofia fordert, dass Nordmazedonien zuerst die genuin bulgarischen Wurzeln in seiner Sprache, Bevölkerung und Geschichte sowie die Rechte der bulgarischen Minderheit anerkennen müsse.

Zwar arbeitet die französische Ratspräsidentschaft der EU seit Wochen intensiv daran, Bulgarien von seiner Hardliner-Position abzubringen, aber bisher ohne Erfolg. Alle Hinweise aus Brüssel oder Berlin, dass Nordmazedonien viele Reformen angegangen und sogar seinen Namen geändert habe, um sich der EU anzunähern, zeigen keine Wirkung in Sofia. Verkompliziert wird die Lage dadurch, dass Bulgariens Regierungschef Kiril Petkow die Mehrheit im Parlament verloren hat und am Mittwoch durch ein Misstrauensvotum stürzte. So bleibt offen, wer Bulgarien überhaupt vertreten wird.

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In den sechs Ländern des Westbalkans, die sich in unterschiedlichen Phasen des Annäherungsprozesses an die EU befinden, sind die Erwartungen an das Treffen am Donnerstagmorgen daher gering. Sowohl die Politiker als auch die Menschen dort haben Phrasen wie "den Erweiterungsprozess mit neuem Leben erfüllen", wie es Ratspräsident Michel in seinem Einladungsschreiben formuliert, schon zu oft gehört. So wartet etwa das Kosovo seit 2018 darauf, dass die Mitgliedstaaten dem Urteil der EU-Kommission folgen und die Visapflicht für touristische Reisen in den Schengen-Raum aufheben.

Die hohen Preise sind auch Thema

Die Debatte um die Vergabe des politisch bedeutsamen Status des Beitrittskandidaten für die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien hat die Länder des Westbalkans daran erinnert, dass ihnen bereits 2003 eine EU-Perspektive versprochen wurde. Seither hat sich jedoch nicht viel getan - und es gibt die Sorge, dass der Westbalkan in einer Art Warteschleife vergessen werde.

Beim Abendessen will Macron dann seine vage Idee einer "Europäischen Politischen Gemeinschaft" vorstellen, danach soll sich eine Debatte anschließen über den Umgang der EU mit europäischen Staaten, die nicht Mitglieder der Union sind. Zu dieser Gruppe gehören sowohl die Ukraine und die Westbalkan-Staaten als auch Großbritannien oder Norwegen.

Eine Debatte über das ehrgeizige Klimaschutzprogramm der EU soll es dagegen nicht geben auf dem Gipfel. Am Mittwoch verabschiedete das EU-Parlament seine Position zu wichtigen Gesetzen aus diesem Paket, doch die Staats- und Regierungschefs wollen das brisante Thema gerade meiden. Stattdessen werden sie am Freitag, dem zweiten Gipfeltag, über die wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Kriegs beraten: etwa die rasant gestiegenen Preise für Energie und Lebensmittel. Entscheidungen stehen hier nicht an, dafür aber schwierige Diskussionen.

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