Ukraine-Krieg:Kiews Antwort auf Putins Rache

Ukraine-Krieg: Inferno mitten in Kiew: Straße im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt nach einem russischen Angriff.

Inferno mitten in Kiew: Straße im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt nach einem russischen Angriff.

(Foto: GLEB GARANICH/REUTERS)

Ad hoc senken die Bürger den Stromverbrauch, machen sich mit Liedern Mut - und hoffen, dass ihr Präsident schnell westliche Flugabwehrsysteme besorgen kann.

Von Florian Hassel, Belgrad

Die Menschen in Kiew müssen jetzt gründlich überlegen, wann sie Waschmaschine oder Warmwasserboiler anstellen - wenn sie überhaupt Strom zur Verfügung haben. Nach den schwersten russischen Raketenangriffen auf ukrainische Städte seit Kriegsbeginn sind auch in der Hauptstadt das Stromnetz und die Heizsysteme schwer beschädigt.

Präsident Wolodimir Selenskij bat die Ukrainer, in der Stoßzeit zwischen 17 und 22 Uhr auf unnötigen Energieverbrauch zu verzichten. Postwendend meldeten die Stromwerke am Dienstagmorgen einen Rückgang des Verbrauchs um gut ein Viertel. Gleichwohl begannen sie am Dienstag, ganzen Stadtteilen für jeweils vier Stunden den Strom abzuschalten.

Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs und laut Militärgeheimdienst hat Russland mindestens 84 Marschflugkörper und Raketen sowie 24 bewaffnete Drohnen auf 20 ukrainische Städte abgefeuert - und zwar mit zehn Langstreckenbombern und sechs Raketenkreuzern der Schwarzmeerflotte und von russischen Stellungen in Belarus aus. Bisher sind 14 Todesopfer festgestellt worden, Dutzende Menschen wurden verletzt.

Die Infrastruktur hat massiv gelitten

Mindestens 70 Bomben trafen etwa 35 mehrstöckige Wohnhäuser und 29 Infrastrukturobjekte wie Stromwerke, Umspannwerke, Heizkraftwerke und Telekommunikationsanlagen. Von Lwiw im Westen bis Charkiw in der Ostukraine arbeiteten Einsatzkräfte am Dienstag weiter daran, nicht nur die Versorgung mit Strom und Heizung, sondern auch die mit Telefon und Internet wiederherzustellen. Die Bürger machten sich unterdessen mit Bildern wie jenen aus der Kiewer U-Bahn Mut, auf denen junge Mädchen trotzig ukrainische Volkslieder singen.

Russlands Präsident Wladimir Putin gab die Angriffe als angebliche Antwort auf den Bombenanschlag auf die Krimbrücke am 8. Oktober aus. Doch laut ukrainischem Militärgeheimdienst GUR sollen die Bombenangriffe schon für den 2. und 3. Oktober befohlen gewesen und nur wegen ihres ausgeweiteten Umfanges um mehrere Tage verschoben worden sein. Der Beschuss trage die Handschrift Sergej Surowikins, des von Putin am Samstag auch offiziell zum Kommandeur des Ukraine-Krieges ernannten Generals. Surowikin verfolgte schon 2017 in Syrien als russischer Kommandeur die Strategie, auch zivile Zivile massiv zu bombardieren.

Eine positive Nachricht inmitten aller Meldungen über Tod und Zerstörung (so sie denn stimmen) ist die Angabe des ukrainischen Generalstabes, man habe mit 43 Marschflugkörpern und 16 Drohnen mehr als die Hälfte der russischen Bombenträger abgeschossen. Zu Kriegsbeginn seien gerade mal drei Prozent der russischen Raketen abgeschossen worden, sagte die Militäranalystin Alina Frolova dem Kyiv Independent. Gleichwohl verfügten die ukrainischen Streitkräfte nur über wenige alte Abwehrsysteme aus sowjetischer Zeit, beklagte Walerij Saluschnyj, der Oberkommandierende. Eine weitere positive Nachricht kam am Dienstagabend aus Kiew. "Es ist gelungen, 32 unserer Soldaten zu befreien", schrieb der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros, Andrij Jermak, auf Facebook. Dazu veröffentlichte er ein Foto, das einige der Männer in einem Bus zeigt. Viele von ihnen hätten bislang als vermisst gegolten. Aus Moskau gab es zunächst keine Informationen zu dem Austausch.

Präsident Selenskij möchte von US-Präsident Joe Biden und anderen westlichen Länderchefs moderne Flugabwehrsysteme. Washington will der Ukraine zwei Ausführungen des gemeinsam mit Norwegen entwickelten bodengestützten Luftverteidigungssystems Nasams schicken. Nasams können auch Marschflugkörper abschießen, und Norwegen hat der Ukraine dem Pentagon zufolge bereits Nasams übergeben. Auf der ukrainischen Wunschliste stehen laut Alina Frolova auch Thaad-Systeme zur Raketenabwehr und seegestützte Aegis-Kampfsysteme.

Geld für den Krieg hat Moskau genug

Jeremy Fleming, Chef der britischen Spionagezentrale Government Communications Headquarters (GCHQ), verbreitete am Dienstag in britischen Medien, dass den Russen für den Ukraine-Krieg "die Munition ausgeht". Ob dies zutrifft und gegebenenfalls auch für Marschflugkörper gilt, ist zweifelhaft. Zwar haben Denkfabriken wie das Zentrum für europäische Politikanalyse CEPA geschildert, dass Russlands Rüstungsindustrie Marschflugkörper und andere Raketen nicht beliebig schnell produzieren könne.

Doch die westliche Hoffnung, dem Kriegstreiber könnten die nötigen Computerchips und andere westliche Hochtechnologie ausgehen, weil er sie nicht selbst herstellen kann, blieb schon im Zuge der Sanktionen nach der Krim-Annexion unerfüllt. Sowohl der CEPA-Report wie die Anfang September veröffentlichten Erkenntnisse der englischen Forschungsgruppe Conflict Armament Research, die in der Ukraine sichergestellte russische Raketenreste untersuchte, geben keinen Grund zur Beruhigung.

Russland hat nach 2014 von US-Herstellern und anderen Produzenten weiterhin Spitzentechnik wie Steuerungsplatinen bezogen- offenbar über Mittelsmänner oder auch, indem es für andere Zwecke gedachte Elemente zur Steuerung seiner Marschflugkörper umwidmete. Zudem hat der Kreml genug Geld, um den Krieg noch weiter hochzufahren: Durch den Gas- und Ölverkauf hat Russland allein 2022 die Rekordsumme von bisher knapp 195 Milliarden Euro erlöst. Der Zentralbank zufolge betrug der Haushaltsüberschuss nur von Januar bis Mai umgerechnet 27 Milliarden Dollar.

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