Klimawandel:Die Gefahr aus dem Gletschersee

Klimawandel: Wasser aus einem Gletschersee zerstörte diese Brücke in Hassanabad, Pakistan.

Wasser aus einem Gletschersee zerstörte diese Brücke in Hassanabad, Pakistan.

(Foto: -/AFP)

15 Millionen Menschen leben mit dem Risiko, dass berstende Schmelzwasserseen ihre Heimat überfluten. Erstmals haben Forschende ermittelt, welche Regionen besonders bedroht sind.

Von Benjamin von Brackel

Im Mai 2022 litt Pakistan unter großer Hitze. In Islamabad wurden annähernd 50 Grad erreicht. Aber die hohen Temperaturen belasteten nicht nur die Körper der Stadtbewohner, auch hoch in den Bergen waren die Folgen zu spüren - wenn auch auf ganz andere Weise: Im Hunzatal in Nordpakistan geriet ein Gletscher ins Rutschen, da sich zwischen seiner Unterseite und dem Felsgestein ein Wasserfilm gebildet hatte. Die Gletscherzunge schob sich mit Wucht in einen Gletschersee. Über mehrere Wochen schwoll dieser an, bis er ausbrach und seine Wassermassen in den Fluss Schyok entließ. Als dieser durch das nordpakistanische Hassanabad rauschte, zerstörte er nicht nur Häuser und Kraftwerke, sondern brachte auch eine Steinbrücke zum Einsturz - und kappte damit die wichtigste Transportroute nach China.

Immer wieder kommt es in unterschiedlichen Provinzen Pakistans zu Ausbrüchen von Gletscherseen. Da infolge der Erderwärmung weltweit die Gebirgsgletscher schmelzen, bilden sich mehr solcher Gewässer und sie schwellen an. Seit dem Jahr 1990 hat sich ihre Zahl, ihre Fläche und ihr Volumen jeweils um rund 50 Prozent vergrößert. Damit steigt auch das Risiko für Ausbrüche. Wie es genau dazu kommt, hängt vom Gelände ab: Felsstürze, Lawinen oder Erdrutsche können Wellen auslösen und einen Gletschersee zum Bersten bringen. Manchmal genügt es aber auch schon, dass Eis im Gletscher sukzessive schmilzt.

Am größten ist die Gefahr in Pakistan und in China. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie in Nature Communications. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Großbritannien und Neuseeland bewerten darin erstmals das weltweite Risiko für über 1000 Schmelzwasserseen. Sie haben sowohl untersucht, wo die Menschen dieser potenziellen Gefahr besonders ausgesetzt und wo sie besonders verletzlich sind. Insgesamt würden 15 Millionen Menschen 50 Kilometer oder näher an Gletscherseen leben, schreiben die Autoren. Allerdings verteilen sich diese Menschen höchst ungleichmäßig über die Welt: Allein die Hälfte konzentriere sich auf nur vier Länder: Indien, Pakistan, Peru und China.

In Pakistan leben mehr als zwei Millionen Menschen in einem Gefahrengebiet. Zugleich seien sie auch noch am verletzlichsten. China hingegen habe mehr Gletscherseen, somit sei die Gefahr insgesamt ähnlich hoch wie in Pakistan. Wobei die Autoren darauf hinweisen, dass die Anzahl von Gletscherseen nicht gleichbedeutend sein muss mit einer hohen Gefahr. So besitze Grönland von allen untersuchten Ländern die mit Abstand meisten Gletscherseen; die Gefahr aber ist dort gleich null - denn es lebt einfach niemand nahe genug der Gletscherseen.

Viel entscheidender sei, wie exponiert die Bevölkerung ist. Und hier lässt sich ein besorgniserregender Trend beobachten: Die Menschen ziehen in immer höhere Lagen. "Und damit setzen sie sich einem immer größeren Risiko aus", sagt der Geograph Marcus Nüsser von der Universität Heidelberg, der seit Jahren in Indien und Pakistan Schmelzwasserseen untersucht.

Auch Bildung und wirtschaftliche Entwicklung entscheiden über das Risiko

In dieser Region nehme die Bevölkerung stark zu, was die Menschen dazu zwinge, weiter hinauf in den Bergen Landwirtschaft zu betreiben. Dabei würden auch Faktoren wie die Analphabetenrate oder das Einkommen eine Rolle spielen, schreiben die Autorinnen und Autoren der Nature Communictions Studie. "Manche Menschen wissen einfach nicht, dass es ein Risiko gibt", sagt die Geographin Rachel Carr von der Newcastle Universität und Mitautorin der Studie. "Andere wiederum wissen darum, haben aber keine andere Wahl."

In Pakistan und Indien seien zusammen rund fünf Millionen Menschen der Gefahr durch Schmelzwasserseen ausgesetzt - rund ein Drittel der weltweit gefährdeten Bevölkerung.

Überraschend war für die Autoren, wie stark das Risiko für das Leben und den Besitz der Menschen von der Entwicklung der jeweiligen Regionen und Länder abhängt. "Der Fokus der Forschung lag bisher vor allem auf den physischen Bedingungen der Seen", sagt Carr. Viel wichtiger aber seien politische, wirtschaftliche und soziale Faktoren.

Das heißt: Je weniger eine Gesellschaft entwickelt ist, umso verletzlicher ist sie. Ist die Analphabetenrate hoch, können viele Menschen weder Informationen über die Gefahr noch einen Evakuierungsplan lesen. Ist die Regierung korrupt, lässt sie womöglich eher in Überschwemmungsgebieten bauen und ist weniger effektiv mit Evakuierungen.

Während Europa hier gut abschnitt, stellen die Autoren zum Beispiel Pakistan oder aber der Andenregion ein schlechtes Zeugnis aus. All das erklärt auch, warum in den Europäischen Alpen in den vergangenen 1000 Jahren "nur" knapp 400 Menschen infolge des Ausbrechens von Gletscherseen gestorben sind, aber allein in der Cordillera Blanca in den nördlichen Anden Perus mehrere Tausend - und das in den vergangenen 70 Jahren.

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