Im Kino: Sin Nombre:Auf dem Dach des Todeszuges

Im Film Sin Nombre erzählt Cary Fukunaga vom gnadenlosen Gesetz der lateinamerikanischen Mara-Banden.

Tobias Kniebe

Das Abendlicht über dem Río Suchiate zum Beispiel, dem Grenzfluss zwischen Guatemala und Mexiko. Auf dem Wasser Holzlatten, auf Lastwagenschläuche aufgebunden, mit Flüchtlingen überfüllt. Schleuser steuern sie mit langen Rudern, Gondoliere der neuen Welt, im goldenen Dunst.

Sin Nombre

Paulina Gaitan und Edgar Flores reisen auf dem Dach des "Todeszuges" und hoffen auf Freiheit.

(Foto: Foto: Verleih)

Oder dieser steinerne Jesus auf dem Berg, irgendwo zwischen Veracruz und Reynosa. Segnend hebt er die Hände, während unten der lange Güterzug vorbeirollt, den sie in Mexiko den "Todeszug" nennen. Menschen klammern sich auf den Dächern der Waggons fest. Es geht nach Norden, mehr als tausend Kilometer schon. Jetzt ist er ganz nah, der sueño americano, der amerikanische Traum.

Darf man sagen, dass diese Bilder schön sind? Dass sie an die Landschaftsmalerei der Romantik erinnern, dass sie vom Fernweh der großen Reisenden erzählen, vom Sfumato der Sehnsucht? Wo doch die Menschen darauf, angetrieben von der Unerträglichkeit ihrer Verhältnisse, sich Ausbeutung, Rechtlosigkeit und Gefahren ausliefern, den Tod riskieren?

Die Schönheit der Bilder

Cary Fukunaga, ein junger amerikanischer Filmemacher mit schwedischen und japanischen Wurzeln, hat diese Schönheit gefunden - aber er hat sie nicht wirklich gesucht in seinem Spielfilmdebüt Sin Nombre. Er zeigt diese Bilder eher wie beiläufige Beobachtungen am Wegesrand. Wie die monotonen Stimmen, mit denen die Migranten beim Wandern eine Telefonnummer in den USA aufsagen, die sie auf keinen Fall vergessen dürfen; wie die freundlichen Kinder, die manchmal neben dem Zug herlaufen, um Früchte zu den Reisenden hinaufzuwerfen; wie die Schlaufe des Gürtels, mit der die Männer sich auf dem Zugdach festbinden, bevor die Müdigkeit sie überwältigt. Auch dafür hat er voriges Jahr den Regiepreis des Sundance Festivals gewonnen.

Wie sich hier aktuelle Recherche, soziales Bewusstsein, Formwillen und ja, auch Pathos verbinden, das erinnert an die berühmten Fotografien Sebastião Salgados. Der Trick aber ist, dass Sin Nombre diesen Aspekt gar nicht in den Vordergrund stellt. Über den Flüchtlingsschicksalen und ihrer Wirklichkeit liegt noch ein Gangsterfilm, eine Liebesgeschichte - und das Melodram eines jungen Mannes, der den Code seiner Familie bricht.

Unerbittliches Gesetz

Denn El Casper (Edgar Flores), der Mann mit dem Tränen-Tattoo unter dem rechten Auge, tritt seine Reise nicht freiwillig an. Er ist eigentlich Mitglied der "Mara Salvatrucha"-Gang in Tapachula, Chiapas, ganz im Süden Mexikos. Die Flüchtlinge, die hier darauf warten, auf den Güterzug nach Norden zu klettern, interessieren ihn nur insofern, als er sie ausrauben kann. Sein Schicksal hat er vollständig in die Hände seiner Gang-Familie gelegt: der Zusammenhalt der "Homies" ist Trost und unerbittliches Gesetz - bis zu dem Tag, an dem man sich auflehnt.

Eine Geschichte, die so nur in der Struktur dieses neuen, panamerikanischen Bandenwesens funktionieren kann. Amerikanismen wie "Homie" erinnern noch daran, dass die Mara-Gangs ursprünglich, in den achtziger Jahren, in Los Angeles gegründet wurden - zunächst von Migranten aus El Salvador, als Antwort auf die dort herrschenden US-Gangs, zum Schutz der eigenen Leute. Dann breitete sich die Bewegung, auch im Zuge einer harten Abschiebungspraxis, über ganz Lateinamerika aus.

Zugehörigkeit als Schutzschild, das muss damals entscheidend gewesen sein - nur so lassen sich die gewaltigen, martialischen Tätowierungen erklären, die traditionell den Körper eines Mara-Mitglieds bedecken, oft auch das ganze Gesicht. Um Zugehörigkeit geht es auch für El Casper, der am Anfang seinen vielleicht zehnjährigen Freund und Sidekick Smiley (Kristyan Ferrer) in seine Gang einführt. Vergeblich protestiert und meckert dessen Großmutter - wie so oft in Bandenfilmen ist sie die machtlose Stimme der gesetzestreuen Armutsexistenz. Man muss aber kein Kriminalist sein, um zu erkennen, dass auch der Zeichen- und Zugehörigkeitskult die Mara-Banden nicht gerade für ein Geschäftsmodell des lukrativen Verbrechens prädestiniert - die Tattoos verbauen jede Form von Mimikry und klandestiner Aktion.

Lesen Sie weiter auf Seite zwei, wie der Film die Zuschauer in seinen Bann zieht.

Das Recht des Stärkeren

Sie schützen auch nur innerhalb eines eng begrenzten Gebiets - drei Straßen weiter herrschen bereits die Feinde von der "Mara 18"-Bande. Die stammt ebenfalls aus L.A., hat sich ebenfalls über den ganzen Kontinent verbreitet, funktioniert in allen Details genauso. Der Existenzzweck der beiden "Familien" besteht nun seit geraumer Zeit eigentlich nur noch darin, sich gegenseitig auf den Straßen abzuschlachten - was zuletzt Christian Povedas Dokumentation La Vida Loca, die im Januar in unseren Kinos lief, erschütternd gezeigt hat.

Um aus dieser stark lokal, auf das Viertel, den "Barrio", fixierten Bandenwelt in die Bewegung der großen Reise hineinzukommen, braucht Sin Nombre einen Trick: Ein Anführer vergreift sich am Mädchen des Helden - auch innerhalb der Gruppe, hieße das, gilt also nur das Recht des Stärkeren. Christian Poveda hat gezeigt, dass das Gesetz der Mara so gerade nicht funktioniert - Respekt vor monogamen Beziehungen, die Waffe in der einen Hand, das Baby in der anderen, Frauen als gleichwertige Bandenmitglieder - das sind die Grundpfeiler ihres multinationalen Erfolgs.

Gegen die eigene Gang

Die Dramaturgie aber verlangt hier etwas anderes: El Casper muss nun, schon aus Gründen des Selbstrespekts, die Hand gegen den Anführer, und damit gegen die eigene Gang, erheben. Gleichzeitig rettet er damit dem Flüchtlingsmädchen Sayra (Paulina Gaitán), das aus Honduras auf dem Weg in den Norden ist, das Leben.

So finden sie sich auf dem Dach des "Todeszugs" wieder - die nächsten tausend Kilometer sind nun ihr gemeinsamer Weg. Vordergründige Spannung gibt es dabei genug - denn der Held mit dem Tränen-Tattoo ist ja nun Gezeichneter, die Mara Salvatrucha gibt es überall, und sie vergisst nie. So bemerkt man als Zuschauer gar nicht recht, wie man selbst auf dem Dach des Todeszugs Platz nimmt, wie die Härten dieser Existenz selbstverständlich werden, sich der Blick auf die Schicksale jenseits unserer Grenzbollwerke verändert.

Der verzweifelte Drang nach Norden, nicht nur auf dem amerikanischen Kontinent - das ist gewaltige Erzählung, eine der letzten unserer Zeit. Cary Fukunaga erzählt davon gerade deshalb so nachdrücklich, weil er oft mit ganz anderen Dingen beschäftigt ist - und im Grunde gar kein Aufhebens davon macht.

SIN NOMBRE, MEX/USA 2009 - Regie, Buch: Cary Fukunaga. Kamera: Adriano Goldman. Musik: Marcelo Zarvos. Artdirection: Carlos Benassini. Produktion: Gael García Bernal, Amy Kaufman, Diego Luna. Mit: Paulina Gaitan, Edgar Flores, Kristian Ferrer, Tenoch Huerta Mejía, Diana García, Luis Fernando Peña. Prokino, 95 Minuten.

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