Europa in Brandenburg:Denkmal mit Zukunft

Die Geschichte eines Traums: Das Joachimsthalsche Gymnasium in Templin wäre die erste europäische Schule in Ostdeutschland. Aber noch ist die Schwelle zur Realisierung nicht überschritten.

Von Lothar Müller

In den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs floh die Familie des musikliebenden Arztes Wilhelm Kaiser und seiner Frau Charlotte, die einer alten protestantischen Pfarrersfamilie entstammte, aus Ostpreußen Richtung Westen. Zu den vielen Schulen, die der Sohn Joachim Kaiser, der 1928 in einem masurischen Dorf geborene künftige Musik- und Literaturkritiker der Süddeutschen Zeitung, auf den Stationen dieser Westwanderung besuchte, gehörte das Joachimsthalsche Gymnasium in Templin in der Uckermark. Die preußische Internatsschule gibt es längst nicht mehr, aber das weitläufige, hoch aufragende Gebäudeensemble an der Prenzlauer Straße kann niemand übersehen, der auf der B 109 den östlichen Stadtrand von Templin erreicht hat.

Drei Schulsprachen sollen zum "europäischen Abitur" führen, darunter Polnisch

Seit fast einem Vierteljahrhundert stehen die ehemaligen Schulgebäude leer. Erst seit 2016 die "Stiftung Gebäudeensemble Joachimsthalsches Gymnasium Templin" die Liegenschaft für etwa 3 Millionen Euro von einem Immobilienmakler erworben hat, der mit allen seinen Nutzungskonzepten scheiterte, wird der Verfall gestoppt. Nun, im Herbst 2020, beginnt die erste größere Restaurierungsmaßnahme. Für etwa 900 000 Euro, für die zu gleichen Teilen die Stiftung und der Bund aufkommen, wird das Dach eines der Alumnatsgebäude saniert. Das sieht auf den ersten Blick aus wie klassischer Denkmalschutz. Tatsächlich fließt das Geld nicht zuletzt deshalb, weil 2019 das Staatsministerium für Kultur und Medien die denkmalgeschützten Gebäude als "Kulturgut von nationaler Bedeutung" eingestuft hat. Es steckt aber mehr dahinter. Die Stiftung hat vor Kurzem den "Tag des offenen Denkmals" vor allem dazu benutzt, den "Masterplan" zu veröffentlichen, den in ihrem Auftrag das Potsdamer Architekturbüro Kühnvon Kaehne und Lange entwickelt hat. Er ist mit den Denkmalschutzbehörden abgestimmt, sein perspektivischer Fixpunkt aber ist die "Europäische Schule Templin", die ab 2024 in dem restaurierten und erweiterten Gebäudeensemble ihren Betrieb aufnehmen soll. Träger dieser künftigen Schule zu werden ist das große, sehr ambitionierte Ziel der Stiftung. Sie wäre die erste europäische Schule in Ostdeutschland, zu Beginn mit 80, am Ende der Aufbauphase mit gut 450 internationalen Schülern und Schülerinnen, von denen weniger als die Hälfte aus Deutschland kämen, mit einem Schulgeld, das nach dem Einkommen der Eltern gestaffelt und von einem großzügigen Stipendienprogramm begleitet würde, mit einem Internat, wie es das bisher in keiner europäischen Schule gibt, mit drei Schulsprachen - Deutsch, Englisch, Polnisch -, die alle zum "europäischen Abitur" führen, mit einem neugebauten naturwissenschaftlichen Zentrum und einer neu gebauten Agora als zentralem Versammlungsort, von der aus der Blick auf den Templiner See fällt, an dessen Ufer die Anlage in den Jahren 1910 bis 1912 von dem Architekten Fritz Bräuning gebaut wurde.

Ein Logo hat die "Europäische Schule Templin" schon. Es besteht aus ihren Initialen: EST und ist in schwungvoller Handschrift der Fahne aufgedruckt, die vor der alten Aula weht. Das französische Wort für Osten klingt darin an und von Ferne ein wenig Latein. Mit dem Masterplan setzt die Stiftung ganz auf die Einspeisung der Denkmalschutzenergien, die seit Langem in Templin und der Region zirkulieren, in das Schulprojekt, das ihre eigenen Möglichkeiten deutlich übersteigt. Auf etwa 97 Millionen Euro beziffert der Masterplan das Gesamtvolumen der Investitionen für die Restaurierung und den Umbau des Gebäudeensembles einschließlich der technischen Infrastruktur eines modernen Schulbetriebs. Sie würden so verteilt, dass 55 Prozent von der öffentlichen Hand, 45 Prozent durch eine Spendenkampagne der Stiftung finanziert würden. Die Bildungsministerien des Landes Brandenburg und des Bundes unterstützen das Projekt, seit Ende 2018 läuft das Akkreditierungsverfahren beim Obersten Rat der Europäischen Schulen (ORES), aber noch gibt es keine definitiven Finanzierungszusagen der staatlichen Stellen. In diesem Herbst tritt das Projekt in seine entscheidende Phase. Der Beginn der Sanierungsarbeiten macht die Entscheidung über die neue Institution, die das alte Gebäudeensemble aufnehmen soll, dringlich. Die "Europäische Schule" hat die Schwelle zur Realisierung erreicht, aber noch nicht überschritten.

Ferdinand von Saint-André, Geschäftsführer der Stiftung, lässt, während er durch die weitgehend noch maroden Gebäude führt, vorbei an den Resten von Sportgeräten in der alten Turnhalle, einsamen Kartenständern in verlassenen Klassenräumen, in denen abblätternder Putz den Boden bedeckt, keine Gelegenheit aus, die Dringlichkeit des EST-Projekts europapolitisch zu begründen. Die Stiftung träumt von einem europäischen Mikrokosmos in der brandenburgischen Provinz. Wir haben, sagt er, das Ganze hier einen Tag nach der englischen Brexit-Entscheidung im Juni 2016 erworben, der Zufall ist inzwischen symbolisch geworden. Das Schulprojekt, so das zentrale Argument, um die Dringlichkeit ihres Projekts zu untermauern, ratifiziert nicht lediglich das Wachstum und die EU-Osterweiterung der vergangene Jahrzehnte. Es ist zugleich und vor allem eine Antwort auf die Spannungen und Tendenzen zur Desintegration zumal zwischen West- und Osteuropa in der Gegenwart der europäischen Union.

Europa in Brandenburg: Seit fast einem Vierteljahrhundert stehen die Räume des ehemaligen Gymnasiums leer, in diesem Herbst soll die Sanierung der Gebäude beginnen.

Seit fast einem Vierteljahrhundert stehen die Räume des ehemaligen Gymnasiums leer, in diesem Herbst soll die Sanierung der Gebäude beginnen.

(Foto: Hans Engels)

Der Standort Templin ist für dieses Argument nicht nur deshalb von Bedeutung, weil es von hier aus nicht sehr weit ist bis nach Polen. Keine Broschüre der Stiftung, kein Prospekt der künftigen Schule verzichtet auf das Lob des konkreten Ambientes, der Einheit von Landschaft und Architektur in der denkmalgeschützten Anlage. Der Architekt Fritz Bräuning, der auch das Empfangsgebäude des S-Bahnhofs Nikolassee in Berlin gebaut hat, hat in ihr Zentrum eine Dreiflügelanlage gestellt, die von einem Uhrenturm gekrönt wird und durch einen großen Bogen den Blick freigibt auf den Berliner See. Hier waren die Internatsschüler und Mentoren untergebracht, weiter östlich schließt sich das H-förmige Schulgebäude an, mit Aula, Bibliothek, Turnhalle und einem massiven Turm, der als Sternwarte diente. Elemente des Klassizismus, eine Athene-Skulptur, ein betender Knabe, ovale Vignetten an den Fassaden zeigen Plato und Aristoteles, Goethe und Schiller. Ein botanischer Garten, eine Badeanstalt am See und ein Bootshaus für die Ruderer verstärkten die Einbettung in die Landschaft.

Als Fürstenschule war das Gymnasium 1607 gegründet worden, in dem Ort Joachimsthal unweit von Templin, der wie die Schule den Namen ihres Gründers trug, des brandenburgischen Kurfürsten Joachim Friedrich. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde es zunächst ins Berliner Stadtschloss verlegt, dann in einem Gebäude nahe dem Schloss untergebracht. Wilhelm von Humboldt bezog nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon das Gymnasium in die von ihm vorangetriebene Bildungsreform ein, es stand in engen Beziehungen zur 1809 gegründeten Berliner Universität. 1880 zog es aus dem zu eng gewordenen Domizil in der Stadtmitte in einen Neubau im damals noch ländlichen Wilmersdorf. Der preußisch-protestantische Grundzug blieb, aber unter den Stadtschülern waren nun auch Söhne des jüdischen Bürgertums wie Erwin Panofsky oder Franz Hessel. Als mit dem Kurfürstendamm und dem Berliner Westen ein neues Zentrum entstand, erfolgte der Umzug nach Templin nicht zuletzt, um das Konzept einer Landschule mit Luft und Licht vor der herandrängenden Großstadt zu bewahren. Nicht zuletzt englische Internatsmodelle flossen in das Konzept ein.

Die Generation, der Joachim Kaiser angehörte, ist nun um die neunzig Jahre alt. In den Filmen zur Schulgeschichte, die bei "Tagen des offenen Denkmals" gezeigt werden, und bei Führungen durch die Gebäude tritt sie noch auf. Christof Bierling aus München, der von 1943 bis 1945 die Schule besuchte, erinnert sich an den jungen Joachim Kaiser, der auf einem nicht sehr gut gestimmten Klavier Chopin spielte und an Henning Schmundt, den Sohn von Rudolf Schmundt, des Generaladjutanten von Adolf Hitler, der an den Verletzungen starb, die er beim Attentat am 20. Juli 1944 erlitten hatte. Zugleich gab es Mitschüler, die nach den Sommerferien 1944 nicht zurückkehrten, weil ihre Familien nach dem Attentat unter Verdacht geraten waren. Ehemalige Schüler des Gymnasiums am Wilmersdorfer Standort wie Ernst von Harnack oder Erwin Planck, der Sohn des Physikers Max Planck, wurden in den letzten NS-Jahren hingerichtet. In Templin war 1945 eine russische Panzereinheit stationiert, die Panzersilhouette an einer der Fassaden des Hauptgebäudes will der Masterplan erhalten. Für die Templiner Nachkriegsgenerationen ist das Schulgelände ein Erinnerungsort, die Einfügung des ehemals preußischen Gymnasiums in das Bildungssystem der DDR, zunächst als Landesschule, dann als Grund-, Ober- und Berufsschule mit angeschlossenem Internat und später als Lehrerbildungsanstalt wird seit Jahren an den "Tagen des offenen Denkmals" in einer Fülle von Fotografien und Dokumenten greifbar. Der Sockel im Zentrum des großen Hofes ist nach dem Kriegsende 1945 verwaist. Die Statue des Kurfürsten Joachim Friedrich ist verschwunden. Leere Sockel haben etwas Suggestives. Ob überhaupt etwas darauf stehen soll und wenn ja, wer oder was, könnte das Thema eines Diskussionsabends in der noch imaginären Europaschule sein.

Europa in Brandenburg: Eine Landschule voll Licht und Luft war das Joachimsthalsche Gymnasium in Templin in der Uckermark.

Eine Landschule voll Licht und Luft war das Joachimsthalsche Gymnasium in Templin in der Uckermark.

(Foto: Tom Schweers)

Die Landrätin der Uckermark, Karina Dörk (CDU), unterstützt das Projekt. Stefan Zierke (SPD), Bundestagsabgeordneter für die Uckermark und den Barnim, hofft auf "eine der modernsten Schulen im ländlichen Raum zwischen den Metropolen Berlin und Stettin mit klarer osteuropäischer Ausrichtung". Delegationen des europäischen Parlaments haben das Schulgelände besucht. Henrike Reemtsma, die Stiftungsvorsitzende, verspricht die Bereitstellung privater Gelder für das Stipendienprogramm. Die Bundeskanzlerin hat im Februar 2019, als ihr die Ehrenbürgerwürde der Stadt Templin verliehen wurde, in ihrer Dankesrede gesagt: "Das Ensemble des Joachimsthalschen Gymnasiums ist etwas sehr, sehr Besonderes, und es zu erhalten ist aller Mühen wert. Ich will hier keine falschen Versprechungen machen, aber ich denke, dass Sie das Thema Europa gewählt haben, passt zu unserer Zeit. Die EU-Osterweiterung jährt sich nun schon zum 15. Mal, und in einer Region, die an Polen grenzt, hat das einen symbolischen Wert. Europäisch zu denken und zu handeln und zugleich vor Ort etwas auf die Beine zu stellen ist manchmal nicht einfach, aber es ist absolut notwendig. Wir sehen ja, wie schnell aus Misstönen Verachtung und Hass werden können, deshalb lohnt es, sich für ein Projekt der Verbindung, der Gemeinsamkeit einzusetzen. Ein europäischer Schulabschluss gehört dazu."

Damit war eine wichtige Hürde angesprochen, die das Templiner Projekt noch überwinden muss: die Einfügung des europäischen Abiturs in das brandenburgische Schulgesetz. Ob aber aus der "Europäischen Schule Templin" in den nächsten Jahren tatsächlich etwas wird, dürfte nach Lage der Dinge kaum von der regionalen Verwurzelung Angela Merkels in Templin und der Uckermark abhängen. Wir leben ja nicht mehr in einer Welt feudaler Gunstbezeigungen. Sondern davon, ob die Bundeskanzlerin und die deutsche Regierung in den letzten Monaten ihrer europäischen Ratspräsidentschaft und das Land Brandenburg den politischen Willen aufbringen, das Projekt die Realisierungsschwelle überschreiten zu lassen.

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