Holocaust-Überlebende Esther Bejarano:"Der Staat ist auf dem rechten Auge blind oder er kneift es zu"

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Esther Bejarano überlebte zwei Konzentrationslager und einen Todesmarsch. Sie lebt heute in Hamburg.

(Foto: DERKEVIN.COM // Kevin McElvaney)

Esther Bejarano überlebte Auschwitz und einen Todesmarsch. Mit der SZ spricht die Hamburgerin über ihre Befreiung und über die neue Gefahr von Rechts.

Von Oliver Das Gupta, Hamburg

Esther Bejarano wurde 1924 als Esther Loewy in Saarlouis geboren. Der Rassenwahn der Nazis raubte ihr viele enge Verwandte. Ihr Vater, ein Weltkriegsveteran, Oberkantor der jüdischen Gemeide, und ihre Mutter wurden in Kaunas ermordet. Ihre Schwester und deren Mann wurden erschossen, als sie in die Schweiz fliehen wollten. Esther musste Zwangsarbeit leisten und wurde im April 1943 ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Dort spielte sie Akkordeon und Blockflöte in einem Mädchenorchester, das die SS aufstellte.

Esther Bejarano: Zu Beginn des Gesprächs möchte ich gerne etwas klarstellen. Immer wieder schreiben Journalisten, ich wäre eine der beiden letzten Überlebenden oder sogar die letzte des Mädchenorchesters von Auschwitz.

Süddeutsche Zeitung: Stimmt das nicht?

Nee! Es gibt neben Anita Lasker-Wallfisch und mir mindestens noch zwei andere Frauen. Es gab ja viele Mitglieder, weil einige gingen und andere kamen. Ich spielte ja nur ein halbes Jahr in dem Orchester.

Sie mussten zusammen mit anderen Mädchen Schlager und Märsche spielen, wenn die Arbeitskommandos ein- und ausrückten. Und wenn Menschen zu den Gaskammern gefahren wurden.

Wenn die Menschen uns gesehen und gehört haben, dachten sie vermutlich, dass dieser Ort nicht so schlimm ist.

Das war eine perfide Täuschung der SS. Wussten Sie, dass diese Menschen getötet werden sollten?

Natürlich war uns das klar. Dieses Wissen war eine furchtbare Belastung für uns. Der Tod war Normalität. Überall sah man Leichen am Wegesrand. Ich kann mich an Appelle erinnern, wo SS-Aufseherinnen Menschen bis zur Bewusstlosigkeit auspeitschen ließen oder Frauen gehängt wurden. Einige gingen aus lauter Verzweiflung an den elektrisch geladenen Draht. Auschwitz war ein Albtraum.

Ein gefürchteter Sadist war SS-Hauptscharführer Otto Moll, der weibliche Häftlinge von seinen Hunden zerfleischen ließ. Doch Sie schien er gemocht zu haben.

Er war eine Bestie und trotzdem rettete er mein Leben. Ich wurde in Auschwitz sehr krank, hatte hohes Fieber, Typhus. Im jüdischen Krankenrevier lag ich schon neben der Todeskammer. Dann kam Moll, ließ mich ins christliche Krankenrevier bringen. Der tschechischen Ärztin drohte er mit Erschießung, falls ich sterben sollte. Später sorgte er dafür, dass ich meinen Keuchhusten auskurieren konnte.

Warum tat er das für Sie?

Ich verstehe das auch nicht. Vielleicht war er auch in dieser Hinsicht pervers.

Im Herbst 1943 wurden Häftlinge mit "arischem Blut" aufgerufen, sich für einen Transport zu melden. Für Esther war das die Chance, die Todesfabrik Auschwitz zu verlassen, weil sie eine christliche Großmutter hatte. Zusammen mit anderen "Mischlingen" wurde sie ins KZ Ravensbrück gebracht. Dort musste sie in einer Fabrik von Siemens Schalter für U-Boote fertigen.

In Auschwitz wurde Ihnen die Nummer 41948 in den Arm tätowiert. Wann haben Sie sie entfernen lassen?

Das war in den siebziger Jahren bei einem Besuch in Israel. Die Nummer hat mich total genervt. Immer wieder war ich in Deutschland darauf angesprochen worden.

War den Leuten der Zusammenhang klar?

Manche wussten es, viele wussten es nicht. Ich wurde auch auf ziemlich dämliche Art und Weise deswegen angeredet. In Hamburg, wo wir in den sechziger Jahren eine Wäscherei betrieben haben, fragte mich ein Mann: Hast du die Nummer, damit dich dein Mann in die Waschmaschine stecken kann? Und in Berlin meinte ein Mann in der U-Bahn, ich hätte die Nummer, weil ich ein leichtes Mädchen sei und gerne angerufen werden möchte.

Das ist unverschämt und demütigend.

Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Aber ich wollte mir die Nummer auf keinen Fall von einem Deutschen entfernen lassen. Bei einem Besuch in der Altstadt von Jerusalem sprach mich ein Palästinenser darauf an, dem der Hintergrund sofort klar war. Er fragte mich, warum ich die Nummer noch habe. Und ob sein Vater sie mir entfernen soll.

Klingt nach einem netten Angebot.

Es war eine Schnapsidee!

Was ist passiert?

Der Araber hat es leider nicht gut gemacht. Das Blut spritzte. Ich konnte wegen der Infektionsgefahr nicht mehr baden gehen, mein restlicher Urlaub war versaut. Ich glaube, dass der Araber mir etwas Gutes tun wollte, weil ich Jüdin bin. Und ich habe dem Angebot zugestimmt, weil ich es als positive Geste dem Palästinenser gegenüber sah. Mein Mann war nicht dabei, der hätte mich sicherlich davon abgehalten. Nun habe ich eine hässliche Narbe.

Rückkehr ins Land der NS-Verbrecher

Mit ihrem Mann Nissim und ihren beiden Kindern sind Sie 1960 aus Israel zurück nach Deutschland gekommen. Wie wirkte Ihre alte Heimat damals auf Sie?

Mir war am Anfang ganz schön mulmig zumute. Als ich den ersten Deutschen in Uniform sah, lief es mir kalt den Rücken runter. Wir sind ja aus Israel weg, weil ich die Hitze nicht gut vertragen habe und mein Mann nicht mehr in den Krieg ziehen wollte. Es war also nicht so, dass ich Deutschland so vermisst hätte. Aber nachdem auch Freunde uns von Hamburg vorgeschwärmt hatten, haben wir es gewagt.

Das war 1960, nur 15 Jahre nach Krieg. Da liefen noch viele Nazi-Verbrecher über die Straße.

Ich habe mich früher bei vielen älteren Leuten gefragt, was sie wohl vor 1945 getan haben.

Esther Bejarano Ende der vierziger Jahre als junge Frau in Israel.

Vor den Schrecken des Holocaust: Esther Bejarano als junges Mädchen im Jahr 1938

(Foto: privat/Das Gupta)

Sind Sie mal einem Menschen begegnet, der NS-Täter war?

Mein Hamburger Hausarzt Doktor Franz Bernhard Lucas kannte meine Geschichte. Er hat mich gedrängt, bei den Behörden gesundheitliche Schäden aus der Lagerzeit geltend zu machen. Er attestierte einige Sachen. Das hat mir geholfen, eine entsprechend höhere Rente zu beantragen. Hinterher stellte sich heraus, warum er so viel über Konzentrationslager wusste: Lucas war SS-Arzt in Auschwitz, aber er war ein guter Arzt. Deswegen wurde er in einem Verfahren auch freigesprochen (Anm. d. Red.: Lucas nahm Selektionen vor, wurde aber vor Gericht von ehemaligen Häftlingen entlastet, weil er Gefangenen geholfen hatte. Nach mehr als drei Jahren im Gefängnis kam er frei. Später wurde er freigesprochen. Er habe unter Zwang gehandelt und hätte bei Nichtbefolgung der Befehle sein Leben riskiert, argumentierte das Gericht).

Im Januar 1945 mussten Esther und 70 andere "Mischlinge" im KZ Ravensbrück ihre Judensterne abgeben. Sie wurden zu "Ariern" erklärt. Kurzzeitig besserte sich ihre Lage etwas, weil sie leichter Post empfangen konnten. Im April 1945 wurden sie aus dem Konzentrationslager getrieben, weil sich alliierte Truppen näherten. Tagelang dauerte der Todesmarsch, wer nicht mehr konnte, wurde von der SS erschossen.

Sind Sie zufrieden damit, wie sich Deutschland 70 Jahre nach Kriegsende entwickelt hat?

Das würde ich so nicht sagen. Schauen Sie sich mal an, wie die Behörden mit Neonazis oder anderen rechten Gruppen umgehen.

Worauf wollen Sie hinaus?

Der Staat ist auf dem rechten Auge blind oder er kneift es zu. Eine Gruppe wie der NSU ermordet jahrelang Menschen und der Staat schaut weg. Der Antisemitismus wird wieder offener gezeigt, es wird Stimmung gegen Muslime und Flüchtlinge gemacht. Und wenn ein Rechtsextremist einen Menschen halbtot schlägt, kommt er in der Regel mit einer milden Strafe davon. Eine Schande ist das! Weil der Staat nachlässig ist, zeigen die Rechten ihre Menschenverachtung und Menschenfeindlichkeit immer ungenierter. Die versuchen ein Klima der Angst zu schaffen. Wenn die Leute von Pegida oder der AfD sich durchsetzen würden, ginge es mit der Demokratie in Deutschland bergab.

Sie sprechen von einem Klima der Angst. Wurden Sie bedroht?

Ach, ich lasse mich nicht einschüchtern. Aber letztes Jahr haben Neonazis zwei Schulen bedroht, weil ich dort Lesungen abgehalten habe. Sowas haben die sich früher nicht getraut.

Die Lesungen fanden hoffentlich trotzdem statt.

Natürlich. Aber die Nazis kamen auch hin. Sie sind im Publikum gesessen, aber haben sich dann doch nicht getraut, die Veranstaltung zu sprengen. Denn die Polizei war auch da und wäre eingeschritten.

Wie reagieren die Schüler, wenn Sie von Auschwitz erzählen?

In der Regel sind sie betroffen, aber offen und interessiert. Einmal ist ein Mädchen aufgestanden und hat mich angeschrien. Ich solle aufhören zu lügen. Sie hat mir Jahre später Briefe geschrieben und sich für alles entschuldigt. Sie war damals in einer Nazigruppe und dort wurde ihr die Holocaust-Lüge eingetrichert. Außerdem hing sie sehr an ihrem Großvater. Doch der war ein Altnazi. Sie fragte mich, ob sie ihren Großvater trotzdem lieben darf.

Was haben Sie dem Mädchen geantwortet?

Klar kannst du deinem Großvater lieben! Aber widerspreche immer denjenigen, die behaupten, dass es den Holocaust nicht gegeben hat.

Am 3. Mai 1945 endete für Esther der Todesmarsch. Die Häftlinge hatten gehört, wie die SS-Wachen zueinander sagten, nun dürfe nicht mehr geschossen werden. Esther und sechs mit ihr befreundete Mädchen beschlossen zu fliehen. Ein Mädchen nach dem anderen verließ die Kolonne und versteckte sich.

SS-Mann Gröning? "Wirkt aalglatt"

Das Interview mit Esther Bejarano wurde im Februar dieses Jahres geführt. Aus aktuellem Anlass haben wir noch einmal mit Ihr Kontakt aufgenommen.

Frau Bejarano, seit unserem Gespräch in Hamburg ist etwas Zeit vergangen. Ich rufe noch einmal an, weil ich über den Prozess gegen SS-Mann Oskar Gröning sprechen möchte. Und über Ihre Selbstbefreiung heute vor 70 Jahren.

Es war keine Befreiung. Die SS kämpfte ja noch in den Wäldern und wir waren nicht in Sicherheit. Befreit wurden wir erst am 8. Mai.

US-Truppen, Briten oder die Rote Armee: Wer hat Sie befreit?

Eigentlich waren es Amerikaner und Russen gemeinsam.

Das müssen Sie erklären.

Es waren Amerikaner, die wir mit ihren Panzern zuerst getroffen haben. Als sie unsere Nummern sahen, haben sie uns geküsst und herzlich umarmt. Sie nahmen uns mit in das mecklenburgische Städtchen Lübz. Dort haben wir mit ihnen gegessen. Sie wollten alles vom KZ wissen. Dann waren plötzlich sowjetische Soldaten da. Amerikaner und Russen umarmten und küssten sich.

Wie haben die Deutschen im Ort reagiert?

Die hatten sich verdrückt. Das hat uns aber nicht vom Feiern abgehalten. Ein Russe stellte ein großes Hitler-Bild auf den Marktplatz. Gemeinsam mit einem Amerikaner zündete er es an. Rotarmisten, US-Soldaten und befreite KZ-Häftlinge tanzten um das brennende Bild. Man rief nach Musik. Da habe ich das Akkordeon, das mir zuvor ein US-Soldat geschenkt hatte, genommen und dazu gespielt.

Was für ein fröhliches Ende einer fürchterlichen Zeit.

Ich muss schon sagen, dass ich sehr viel Glück hatte, sonst hätte ich Auschwitz nicht überlebt. Ich kannte den SS-Mann Gröning übrigens nicht. Warum wollen Sie mit mir über ihn sprechen?

Gröning hat zu Beginn seines Prozesses in Lüneburg seine "moralische Mitschuld" eingeräumt. Ist jemand für Sie ein Mörder, der für die SS in Auschwitz war, aber mutmaßlich keinen Menschen selbst getötet hat?

Er macht seine Rolle klein. Das Wort "Mitschuld" schwächt den Begriff "Schuld" ab. Für mich ist Gröning schuldig. Es ist völlig egal, ob er jemanden erschossen oder Menschen vergast hat. Gröning war in Auschwitz dabei, er hat nichts gegen diesen Wahnsinn getan.

Nehmen Sie ihm seine Reue ab?

Ich nehme ihm die Reue nicht ab. Er hat das ein einziges Mal gesagt. Vermutlich hat ihm das sein Anwalt nahegelegt. Er wirkt auf mich aalglatt.

KZ Überlebende Esther Bejarano Auschwitz Holocaust

Esther Bejarano

(Foto: DERKEVIN.COM // Kevin McElvaney)

Die Auschwitz-Überlebende Eva Kor hat Gröning die Hand gereicht und vergeben. Können Sie einen solchen Schritt nachvollziehen?

Furchtbar! Ihr Verhalten ist seltsam. Sie kann ihm persönlich verzeihen. Aber sie kann nicht für alle Holocaust-Opfer reden - doch genau dieser Eindruck entsteht. Ich verstehe auch nicht, warum sie das Treffen mit Gröning öffentlich gemacht hat. Wenn man so etwas macht, posaunt man es doch nicht in die Welt hinaus.

Könnten Sie einem geständigen NS-Täter wie Gröning verzeihen?

Nein, niemals! Der Mann hat bei einem Völkermord mitgeholfen, in dem auch meine Eltern und meine Schwester getötet wurden.

Gröning wird wohl so oder so nicht mehr ins Gefängnis müssen. Ist das gerecht?

Stimmt, fürs Gefängnis ist er wohl zu alt. Das ist bitter, denn der Mann hat in den letzten 70 Jahren sein Leben in Freiheit genießen können. Aber das Wichtigste ist, dass er schuldig gesprochen und verurteilt wird. Nach dem Krieg hat die westdeutsche Justiz weggeschaut und die Altnazis geschützt, teilweise waren es ja selbst noch Nazi-Juristen, die in der Bundesrepublik Karriere machten.

Inzwischen gibt es eine andere Generation von Richtern und Staatsanwälten, die noch lebende mutmaßliche NS-Verbrecher belangen will.

Besser spät als nie. Aber ich habe meine Zweifel. Deutschland entwickelt sich wieder ins Negative, auch die Justiz.

Woran machen Sie das fest?

Sagen Sie mir: Warum kommen Altnazis wie Gröning erst 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg vor Gericht? Warum bestraft die Justiz rechte Gewalt nicht entschiedener? Und warum erlaubt ein Gericht, dass Neonazis bei der Eröffnung des NS-Dokumentationszentrums durch München marschieren - am 30. April, dem 70. Todestag von Hitler?

Esther Bejarano hat ihre "Erinnerungen" im Laika-Verlag veröffentlicht (ISBN 9783944233048). Mit der Rap-Band Microphone Mafia tritt sie regelmäßig auf, am 8. Mai in Berlin.

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