Prantls Blick:Waschkorbweise Post für die Gleichberechtigung

Dr. Elisabeth Selbert

Undatierte Aufnahme der bedeutenden SPD-Politikerin Elisabeth Selbert, die als "Mutter des Grundgesetzes" bezeichnet wird.

(Foto: picture-alliance / dpa)

Elisabeth Selbert hat vor 70 Jahren heldinnenhaft dafür gesorgt, dass der Artikel 3 ins Grundgesetz kam. Das Land dankte es ihr nicht.

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Ein kleiner Dialog aus den Gründungstagen der Bundesrepublik: "Sag mal, Carlo, ich finde in den Herrenchiemsee-Protokollen gar nichts zu der Frage der Gleichberechtigung. Wann habt ihr das denn besprochen?" So fragt Elisabeth Selbert, damals 51, Rechtsanwältin aus Kassel, ihren berühmten Parteikollegen. Die Beratungen auf der Insel Herrenchiemsee, die bis zum 23. August 1948 gedauert haben, sind zu Ende, am 1. September tritt in Bonn der Parlamentarische Rat zusammen, der auf der Basis des Herrenchiemsee-Entwurfs das Grundgesetz formuliert. Carlo Schmid und Elisabeth Selbert sind beide für die SPD Abgeordnete im Parlamentarischen Rat.

"Es waren ja nur Herren anwesend"

Carlo Schmid druckst nicht lange herum: "Wann wir die Gleichberechtigung besprochen haben? Gar nicht, waren ja nur Herren anwesend." Aber der Staatsrechtler aus Württemberg räumt ein: "Die Frauenrechte sind auf dem Stand der Jahrhundertwende, und wenn sich da was ändern soll, brauchen wir eine neue Formulierung im Grundgesetz. Lass es mich doch bitte wissen, wenn Du einen konkreten Entwurf hast." Das klingt ein wenig gönnerhaft. Aber Elisabeth Selbert lässt sich nicht lange bitten. "Den habe ich", sagt sie: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt."

Wenn es Elisabeth Selbert nicht gegeben hätte

Ob sich der Dialog wirklich so abgespielt hat? Er könnte sich jedenfalls so abgespielt haben. Ein Fernsehfilm über Elisabeth Selbert hat ihn so nachgezeichnet. Zwar standen schon in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 zwei Gleichberechtigungsartikel. Erstens: "Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten." Und zweitens: "Die Ehe beruht auf der Gleichberechtigung der Geschlechter." Aber diese Gleichberechtigung war "eine rein papierene", wie Elisabeth Selbert schon im Oktober 1920 als Delegierte auf der SPD-Reichsfrauenkonferenz in Kassel gesagt hatte. Der Weimarer Verfassungssatz, dass "die Ehe auf der Gleichberechtigung der Geschlechter" beruht - er war 1919 eine blanke Lüge und er blieb auch eine Lüge. Und er wäre eine Lüge geblieben, wenn es nicht Elisabeth Selbert gegeben hätte.

Frauen - der Entscheidungsgewalt der Männer unterworfen

Realität war das Gegenteil, und geregelt war die Realität im Bürgerlichen Gesetzbuch vom 1. Januar 1900. Dort waren die Ehefrauen der Entscheidungsgewalt ihres Ehemanns unterworfen; in der Ehe galt, kraft göttlicher Fügung oder natürlicher Bestimmung, die männliche Dominanz. So beschrieb es jedenfalls ein Lehrbuch des Familienrechts, das zeitgleich mit dem Zusammentreten des Parlamentarischen Rats 1949 er­schien: Der Mann bestimmte, so das Lehrbuch und die Realität, "Art und Umfang des Lebensaufwandes, den Ablauf des häuslichen Lebens, die Erziehung der Kinder, Wohnort und Wohnung"; der Mann hatte "Herrschaftsbefugnis über das Frauenvermögen", er konnte den Arbeitsplatz der Frau kündigen, sofern die "ehelichen Interessen beeinträchtigt" waren. Der Mann hatte das Entscheidungsrecht, die Frau die "Folgepflicht". Die Kompetenz der Frau beschränkte sich auf ihre persönlichen Angelegenheiten.

Herrenchiemsee hatte keine Lust auf Gleichberechtigung

Die erste Fassung des Gleichheitssatzes im Grundgesetz wollte es bei der Weimarer Formel belassen; sie sprach lediglich davon, dass Män­ner und Frauen "dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten haben". Aber dann kam Elisabeth Selbert. Und ins Grundgesetz kam auf Drängen von ihr der revolutionäre Satz: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt."

Auf Herrenchiemsee, wo 33 Herren bis zum 23. August 1948 getagt und das Grundgesetz vorbereitetet hatten, war so ein Satz noch keinem der Herren in den Sinn gekommen. Der Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rats, der anschließend zu Bonn tagte, hatte eigentlich auch keine Lust auf Gleichberechtigung. Ihm wäre eine andere Formel lieber gewesen, etwa die des Staatsrechtlers Richard Thoma: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Das Gesetz muss Gleiches gleich, es kann Verschiedenes ungleich behandeln." Wären unter den 65 Räten nicht die vier Frauen gewesen, es wäre bei dieser juristischen Lall-Formel geblieben.

Erst stachelte Elisabeth Selbert ihre drei Kolleginnen im Parlamentarischen Rat an. Da war erstens die Sozialdemokratin Friederike Nadig, Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt in Ostwestfalen; da war zweitens die Zentrumspolitikerin Helene Wessel, die in den fünfziger Jahren zu den bekanntesten Frauen im politischen Leben der Bundesrepublik gehörte; sie trat dann später zu­sammen mit Gustav Heinemann der SPD bei und wurde erbitterte Gegnerin der Wiederbewaffnung. Und da war drittens Helene Weber, die "Mutter der CDU-Fraktion"; sie war bis 1962, als sie 81-jährig starb, Mitglied des Bundestags und galt als Vertraute von Konrad Adenauer. Selbert, Nadig, Wessel und Weber: Zusammen überzeugten die vier ihre widerstrebenden 61 männlichen Kollegen von der zukunftsweisenden, damals fast abenteuerlichen Gleichberechtigungsformel.

Elisabeth Selberts Sternstunde

Elisabeth Selbert zog wie eine Wanderpredigerin durchs Nachkriegsdeutschland, sie mobilisierte Frauengruppen, Gewerkschaften, Betriebsrätinnen und die weiblichen Abgeordneten der Landesparlamente, sie organisierte Ende 1948 eine der wenigen öffentli­chen Aktionen zur Grundrechtsdebatte. Die Frauen aller Landtage meldeten sich beim Parlamen­tarischen Rat, nur die aus Bayern nicht. "Waschkorbweise" sollen die Briefe in Bonn eingetroffen sein; sie sind leider nicht erhalten. Elisabeth Selbert redete den Vätern des Grundgesetzes ins Gewissen: "Die Frau, die während der Kriegsjahre auf den Trümmern gestanden und den Mann an der Arbeitsstelle ersetzt hat, hat heute einen moralischen Anspruch darauf, wie ein Mann bewertet zu werden." In der ersten Lesung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat unterlag Selbert noch. Aber am Ende wurde ihr Gleichheitssatz im Parlamentarischen Rat einstimmig verabschiedet. Das war die Sternstunde der Elisabeth Selbert.

Als im parlamentarischen Rat zum ersten Mal der Gleichberechtigungssatz der Rechtsanwältin Selbert zur Diskussion gestanden hatte, war dem FDP-Abgeordneten Thomas Dehler der Satz entfahren: "Dann ist das Bürgerliche Gesetzbuch verfas­sungswidrig." Und der CDU-Abgeordnete Hermann von Mangoldt hatte bei den Beratungen gemeint: "Das bisherige Recht würde in sich zusammenfallen." Er hatte in ge­wisser Weise recht damit; genauso war es; und gleichwohl oder gerade deswegen: Es geschah erst einmal nichts. Der Gleichberechtigungssatz stand im Grundgesetz, er leuchtete schön, und die Männer warfen ihr Sakko darüber.

Zurückgepfiffen an Herd und Staubsauger

Die Frau wurde in den fünfziger Jahren erst einmal zurückgepfiffen an Herd und Staubsauger. Das Bundesverfassungsgericht musste eingreifen; erst dann, fast zehn Jahre später, bequemte sich der Gesetzgeber im Jahr 1958 zu einem Gleichberechtigungsgesetz. Die Lehre aus alledem heißt erstens: Recht kann Gleichberechtigung bremsen, Recht kann aber auch Gleichberechtigung fördern. Zweitens: Verfassungsrechtliche Postulate allein helfen gar nichts, wenn sie nicht konkret ins Alltagsrecht übersetzt werden. Das gilt für Ehe und Familie, das gilt in Staat und Gesellschaft.

Der Undank des Vaterlandes

Honoriert wurde Elisabeth Selbert ihr Kampf um die Gleichstellung der Frau in allen Lebens- und Rechtsgebieten nicht. Sie blieb die einzige der vier weiblichen Abgeordneten des Parlamentarischen Rats, die nicht in den Bundestag einzog. Elisabeth Selbert wäre gern die erste Richterin des Bundesverfassungsgerichts geworden - und es hätte ihr dies fürwahr gebührt. Die von ihr angestrebte Nominierung scheiterte aber nicht zuletzt an der mangelnden Unterstützung aus der SPD. Bis zum 85. Lebensjahr betrieb sie dann ihre auf Familienrecht spezialisierte Rechtsanwaltskanzlei in Kassel. Sie starb im Jahr 1986, fast neunzigjährig. Das Land verdankt ihr viel, die Gleichberechtigung verdankt ihr den Aufbruch in eine neue Zeit.

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