Tierfotografie:Flugbegleiter

Klaus Nigge ist einer der besten Tierfotografen der Welt - auch, weil er die Kunst des Wartens beherrscht. Eine Reise in die Pyrenäen, wo die Bartgeier nicht immer so freundlich sind, sich von ihrer besten Seite zu zeigen.

Von Tanja Rest

Wenn man davon ausgeht, dass es im beruflichen Leben von Klaus Nigge mehr Tage gibt, an denen nichts läuft, als Tage, an denen etwas läuft, dann ist dieser Tag in Spanien ein normaler Tag. "Ein Mist eben", sagt Nigge. Die Doktorandin, die ihm für diesen Morgen eine Kiste Ziegenfüße versprochen hat, ist zu einer Feldexkursion abberufen worden, nun steht er mit leeren Händen da. "Dabei bin ich gestern noch an einem toten Wildschwein vorbeigefahren. Wenn ich das geahnt hätte! Ein Schwein, gleich neben der Straße! Das hätte ich doch in den Kofferraum gepackt und mitgenommen." Er kurbelt den Mietwagen zügig durch die Berglandschaft. "Na, wenn wir Glück haben, finden wir noch einen überfahrenen Hund. Oder wenigstens eine Katze." Nicht viel Hoffnung in seiner Stimme. Und ohne Köder keine Geier.

Nigge ist professioneller Tierfotograf, einer von vielleicht zehn in Deutschland. In der dritten Klasse schreibt man so etwas noch ins Freundschaftsbuch, wenn man nicht schon Rapper oder Youtuber cooler findet. "Was ich einmal werden will: Tierfotograf." Ein Beruf, so unwahrscheinlich wie Schnee im Juli. Aber Nigge, 62, ist es tatsächlich geworden. Er arbeitet für das amerikanische Magazin National Geographic und die deutsche Geo, beim internationalen Wettbewerb "Wildlife Photographer of the Year" hat er es viele Male unter die Finalisten geschafft. Er war Präsident der Gesellschaft Deutscher Tierfotografen, sitzt in Jurys, hält Vorträge. Und alle paar Monate bereist er die einsamsten Winkel des Planeten. Klaus Nigge, Diplombiologe, unverheiratet, eine Tochter, hat Saiga-Antilopen fotografiert in Kasachstan, Braunbären auf Kamtschatka und die letzten europäischen Wisente im Urwald von Bialowieza in Polen. Aber am liebsten fotografiert er Vögel. "Früher hab ich immer gesagt: Weil die fliegen können und ich nicht. Aber die Wahrheit ist, ich weiß nicht, warum. Ich bin der Vogelmann. Ist halt so."

In den katalanischen Pyrenäen hält er sich auf, weil nur hier alle vier europäischen Geierarten vorkommen. Gänsegeier, Mönchsgeier, Schmutzgeier. Und der Bartgeier natürlich, der interessiert Nigge am meisten. "Weil er so charismatisch ist", sagt er, "zum Wegträumen." Und wenn die Doktorandin, mit der er hier Kontakt hat, auch keine Ziegenfüße liefern kann, so hat sie ihm doch immerhin den Platz verraten, an dem sie die Geier füttert und studiert.

"Gib mir eine Vogelart, gib mir ein Jahr Zeit und lass mich in Ruhe."

Ein Plateau, das über einer Felswand hundert Meter tief abbricht, mit Kot und Knochen übersät. Davor steht ins Gebüsch geduckt die Ansitzhütte, es passen drei Plastikstühle rein. Nigge installiert seine Nikon D 7500 und das 150-600er Sigma-Objektiv - Details, die er mit einer Handbewegung wieder wegwedelt. "Völlig egal, es ist alles gleich gut. Nur Amateure finden die Marke interessant. Und jetzt Stille!"

Und das ist die Situation: Man sitzt neben ihm in einer 30 Grad warmen Schwitzhütte und blickt durch die von außen verspiegelte Glasscheibe auf einen Geierfelsen ohne Geier und ohne Köder, während die Mücken ausgelassen stechen. Es beginnt das große Warten.

Mit ruhigen, poetischen Bildern ist heute nichts mehr zu gewinnen, Tierfotos müssen spektakulär sein, um für Geld in Magazinen gedruckt zu werden. Das Problem ist nur, dass die Tiere dabei nicht sonderlich hilfreich sind. Sie verbringen ihre Tage immer noch hartnäckig damit zu fressen, zu schlafen und ausdruckslos in die Landschaft zu glotzen. Also muss man warten. In Polen lag Nigge bei Wind und Wetter zehn Wochen lang im Tarnversteck, und trotzdem sahen die Wisente auf seinem Speicherchip noch so dröge aus wie Milchkühe auf der Weide. Wäre über Nacht nicht Schnee gefallen, er wäre an seinem Abreisetag wohl nicht mehr hingefahren. So aber fotografierte er, wie die Wisente zwei Wildschweine auf die Hörner nahmen, die ihnen im Schnee nicht ausweichen konnten. "Es war ein Blutrausch. Die haben die Schweine hochgeschmissen und in der Luft zerfetzt." Die Bilder hat er oft verkauft.

Über der Schlucht kreisen inzwischen die Gänsegeier, sie nutzen die Thermik in der Mittagshitze. Nigge findet, dass man auch den Bartgeier nicht abschreiben dürfe. "Es liegen ja noch ein paar Knochen rum, vielleicht holt er sich die." Die Natur hat das makellos choreografiert: Wenn in den Pyrenäen ein Stück Wild verendet, kommen erst die Mönchs- und die Gänsegeier und reißen das Fleisch in Stücke. Danach schlingen die Bartgeier die Knochen hinunter. Oder lassen sie im Flug fallen, damit sie auf dem Boden zerplatzen. Zuletzt räumen die kleinen Schmutzgeier die Reste ab. "Der Bartgeier, wie er den Knochen gerade loslässt - das wär's", findet Nigge. "Ein richtig gutes Foto davon hat bisher noch keiner gemacht."

Ein noch nie da gewesenes Bild: Da liegt die Latte. Vor jedem Projekt sieht er in den Fotoagenturen und bei Google Images nach, was es bereits gibt. Das muss er toppen. Die Latte neu legen für die nächsten zehn Jahre. "Und wenn ich merke, da geht was, bin ich in dem Moment wie besessen. Da gibt es nur das Tier und mich." Home Storys mag er am liebsten. Wenn es ihm gelingt, das Wesen eines Tieres zu erfassen, seine Individualität, ja seine intimste Privatheit abzubilden. Und das dauert. Wenn National Geographic eine Reportage über die Amish People in Auftrag gebe, sei es nicht anders: Man müsse den Leuten erst mal nahekommen. Nigge sagt: "Gib mir eine Vogelart, gib mir ein Jahr Zeit und lass mich in Ruhe. Dann mach ich dir die Amish-Geschichte, nur mit dem Bartgeier."

Auf dem Felsen landen zwei Kolkraben. Sie suchen mit schiefem Blick den Boden ab und picken mit ihren wuchtigen Schnäbeln an den Knochen. Was schon mal gut sei, glaubt Nigge. "Das lockt die Geier an, glaub mir. Da müssen wir nur abwarten."

Das ist es seiner Erfahrung nach, was die Menschen an seinem Job am meisten fasziniert. Gar nicht mal unbedingt, wo er überall hinkommt und welche Fotos er mitbringt. Sondern, dass er warten kann. Wochenlang, wenn es sein muss. Das Nichtstunkönnen ist eine der rarsten und begehrtesten Fähigkeiten unserer Zeit, und Nigge hat sie. Seine Augen tasten die Landschaft nach dem Vogel ab, seine Gedanken gehen inzwischen ihre eigenen Wege. "Die Leute finden die Vorstellung ganz toll. Aber wenn die jetzt hier mit uns in der Hütte säßen, denen wäre trotzdem langweilig."

2013 sitzt er drei Wochen lang im Regenwald von Mindanao 35 Meter hoch auf einem Baum, weil gegenüber der Philippinenadler seinen Horst hat. Zwei Mal täglich kommt er angeflogen, in der dichten Vegetation sieht man ihn nie kommen. Um das Bild zu machen, wie er landet, hat Nigge genau fünf Sekunden, in denen der Autofokus ihn kriegen muss. Zwölf Stunden am Tag liegt sein Finger auf dem Auslöser. Im Hinterkopf immer die Angst, dass jederzeit alles vorbei sein kann, da Adler ihre Nester begrünen - sie legen ständig neue Zweige nach. "Ich hab bestimmt hundertmal gedacht: Wenn er den jetzt in meiner Sichtachse einbaut, bin ich erledigt."

Er wird krank, klettert vom Baum, schluckt Antiobiotika, klettert wieder rauf. Doch es gibt auch die schönen Momente. Wenn es dunkel wird, setzt oft Wind und leichter Regen ein. Dann blickt er aus seinem Baumversteck aufs Nest und denkt: Der Adler dort drüben spürt denselben Regen und dieselbe Dunkelheit wie ich, sein Baum wiegt sich im Wind wie meiner. Und er empfindet eine tiefe Verbundenheit. Zuletzt gelingt ihm wirklich das Foto, wie der Philippinenadler bei seinem Jungen landet - das einzige Bild aus der Motivreihe, auf dem alle wesentlichen Teile scharf sind. Die Latte für die nächsten zehn Jahre.

Wie viel bezahlt ihm National Geographic für eine Geschichte wie diese? Nigge nennt eine Summe, die zuerst beträchtlich anmutet, aber dahinschmilzt, wenn man sie auf die Tage und Wochen runterrechnet. Wenn man bedenkt, dass er zuvor alles über die Tiere gelesen, Kontakte zu lokalen Wissenschaftlern geknüpft und die Reise selbst organisiert hat. Dass er immer mehrmals hinfährt. Dass er mit 50 000 Bildern (Nigge sagt: Auslösungen) zurückkommt, von denen er etwa 5000 aussucht und vorlegt. Dies alles einkalkuliert bleibt ein Lehrergehalt übrig. Nigge erklärt gerade, dass ihn das Geld nie groß gekümmert habe, als seine Hand in der Luft hängen bleibt. "Bartgeier! Da vorne!"

Ein riesenhafter Vogel gleitet vorbei. Brust rötlich, keilförmiger Schwanz, Flügelunterseite hell, Handschwingen weit abgespreizt. Eine Spannweite von fast drei Metern. Klacklacklacklacklacklacklacklack. Zehn Bilder pro Sekunde. 60 Auslösungen insgesamt. Flüsternd: "Mensch, ich glaub's nicht."

Ganz in der Nähe gibt es alle vier Geierarten auf Bestellung, für 150 Euro Fotogebühr

Nigge blickt aufs Display seiner Kamera, lässt die Bilder vorüberzucken. Eines ist dabei, auf dem sieht man den Bartgeier messerscharf. Die gelbe Iris mit blutrotem Rand. Den schwarzen Augenstreif, der unterhalb des beachtlichen Schnabels in ein Bärtchen ausläuft. "Immerhin ein Foto gemacht, da bin ich zufrieden", sagt Nigge. "Aber ist natürlich alles zum Wegschmeißen." Der Bartgeier ist für ihn ein Sehnsuchtsvogel. Weil er sich kaum je blicken lässt, weil er Charakter im Gesicht hat, weil er ein Rätsel ist. Warum die konzentrierte Säure in seinem Magen Knochen zersetzt, den Magen selbst aber unversehrt lässt, weiß die Wissenschaft bis heute nicht.

Flüsternd: "Der kommt bestimmt noch mal wieder. Vielleicht landet er ja."

Manchmal gelingen ihm die besten Fotos auf Anhieb, quasi aus der Hüfte geschossen. Aber die schönsten, die frohesten Bilder seien immer die gewesen, auf die er gewartet habe. Bei denen die Amplitude zwischen tiefer Frustration und plötzlichem Erfolgserlebnis am größten sei. Wenn er auf sein Display schaut und vor lauter Glück nicht fassen kann, was er da sieht.

Drei Minuten, fünf Minuten, zehn Minuten. Der Bartgeier ist weg.

autor_kreisrund

„Ich bin der Vogelmann, ist halt so“, Klaus Nigge.

(Foto: Klaus Nigge)

Nach einer Viertelstunde sinkt Nigge im Stuhl zurück und formuliert einen melancholischen Satz. "Ich würd jetzt hundert Euro geben für einen Eimer Ziegenfüße."

An einem Ort ganz in der Nähe gibt es alle vier Geierarten auf Bestellung. Für die, die nicht warten wollen. 150 Euro pro Nase und Fotoplatz, dafür wird regelmäßig Fleisch ausgelegt. Die Tiere kommen zu Hunderten. Eisvögel im Spreewald kosten 160 Euro, Braunbären in Finnland 200 Euro. Der Schneeleopard in Ladakh: 4350 Euro, dann gehört er dir, Flug inklusive. "Du suchst noch ein Geschenk für jemanden, der Vögel fotografiert?", sagt Nigge. "Dann schenkst du dem einfach fünf Arten."

Nach der Digitalkamera und dem Autofokus sind Fotosafaris die dritte Revolution in der Branche: Tierfotografie als Konsumware. "Nehmen wir nur mal unsere Geier", sagt Nigge: "Du müsstest den Ort nicht finden, wo sie sich aufhalten. Du müsstest nicht wissen, wie man sie anlockt und den Ansitz so positioniert, dass der Hintergrund schön weich wird. Du müsstest nicht mal wissen, wie die Vögel überhaupt heißen. Trotzdem würdest du mit spitze Geierbildern zurückkommen." Ein schottischer Fotograf hat das mal Bordellfotografie genannt. Nigge aber sagt, obwohl es ihn Überwindung kostet: "Es gibt Amateure, die haben auch keine schlechteren Bilder als ich."

Und manchmal haben auch Profis keine Lust zu warten. In der Ausstellung "Wildlife Photographer of the Year" im Londoner National History Museum war gerade das Bild eines Ameisenbären zu sehen, der nachts an einem Termitenhügel scharrt. Gemacht hatte es der Fotograf Marcio Cabral, es war das Siegerbild in der Kategorie "Tiere in ihrer natürlichen Umgebung". Bis Betrachter meldeten, das Tier sehe seltsamerweise haargenau so aus wie der ausgestopfte Ameisenbär im Besucherzentrum des Nationalparks, wo Cabral das Motiv aufgenommen haben wollte. Ein anderes Siegerbild - ein Wolf, der über einen Zaun springt - wurde vor acht Jahren ebenfalls nachträglich disqualifiziert. Es stellte sich heraus, dass der Wolf dressiert war.

Die Grenzen dessen, was in der Tierfotografie noch ehrenwert ist und was nicht, sind fließend. Kontraste und Farben optimieren ist erlaubt, solange es ein wahrhaftiges Abbild des Gesehenen bleibt. Die Tiere zu stören, ist verpönt, zähmen sowieso, anfüttern aber nicht. In der Londoner Ausstellung hing auch ein Foto von Klaus Nigge, die Aufnahme eines Weißkopfseeadlers auf den Aleuten. "Zwei Wochen lang habe ich Eimer voller Fische zu den Adlern geschleppt, am Ende haben die mich auf drei Meter rangelassen." Nur so gelingt ein Porträt wie dieses: das Wappentier der USA auf Augenhöhe, triefend nass, in seiner Majestät gekränkt nach fünf Tagen Dauerregen. Er hatte ihn schon lange auf der Liste. "Ich arbeite ein Projekt nach dem anderen ab. Wenn ich irgendwann mal in die Kiste steige, hab ich hoffentlich alles erledigt."

Ein Keckern, Treten und Fauchen - die Geier sind da. Es wird ein Schlachtfest

Früher Abend, im Dunst färbt sich der Pyrenäenhauptkamm safrangelb. Nigge will jetzt doch in den Supermarkt, den Geiern vier Hühner und Rippchen besorgen.

Am nächsten Tag schwirren trotzdem stundenlang nur die Alpensegler über den Felsen, elegant um ihre eigene Achse rotierend. Dann treffen vier Kolkraben ein. Wenig später naht der erste Gänsegeier, die Füße lässt er bei der Landung hängen wie ein Fallschirmspringer. Es folgt der zweite. Nigge hängt an der Kamera. Eine halbe Stunde lang passiert gar nichts. Dann sitzen innerhalb weniger Minuten 40 Gänsegeier da, und die Hühner - explodieren. Es ist ein Keckern und Fauchen, ein Hacken und Treten und Schlagen von riesigen Flügeln. Ein Schlachtfest. Klacklacklacklacklacklack. Nach fünf Minuten ist alles vorbei. Dann landen die Schmutzgeier. Hühnergroße Vögel mit nacktem gelben Kopf; mit ihren Stirnfurchen und den abstehenden Federn am Hinterkopf sehen sie wie grüblerische Harlekine aus. Übrig bleiben nur die blanken Knochen. Man wartet nochmals drei Stunden, doch der Bartgeier kommt nicht.

Weitere Sehnsuchtsvögel von Klaus Nigge: der Seggenrohrsänger in der Ukraine, der Schuhschnabel in Tansania, ein blauer Ara in Brasilien. Und in Deutschland? "Wer den Riesenseeadler in Kamtschatka fotografiert hat, ist für die Kohlmeise verloren." Das hat Fritz Pölking zu ihm gesagt, der Pionier der deutschen Tierfotografie. Aber bei Nigge stimmt es gar nicht.

Vor einiger Zeit saß er wieder mal auf einem Baum, in Lünen in Nordrhein-Westfalen, wo er einen Garten geerbt und sich ein Haus hineingebaut hat. Im Nachbarbaum brüteten die Buntspechte. Der eine Jungvogel saß auf dem Ast, der zweite guckte gerade aus der Höhle, als die Eltern landeten. Nigge drückte ab. Die ganze Familie auf einem Bild. "Das ist immer noch eines meiner schönsten Fotos überhaupt." Zehn Uhr morgens, er kletterte vom Baum, legte sich wieder ins Bett. Und war glücklich.

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