Internationale Presseschau:"Die Politik muss Chemnitz als Warnschuss begreifen"

Chemnitz

Polizisten sichern am vergangenen Montag eine Demonstration der rechten Szene vor dem Karl-Marx-Denkmal.

(Foto: Jan Woitas/dpa)

Die Ausschreitungen in Chemnitz beschäftigen auch die internationalen Medien. Die einen suchen die Gründe dafür in Sachsens Vergangenheit, die anderen kritisieren die "Ratlosigkeit" der deutschen Politik. Eine internationale Presseschau.

Die französische Tageszeitung Liberation zeichnet ein düsteres Bild von der Lage in Chemnitz:

"Chemnitz ist bekannt dafür, in den Neunzigerjahren eine Hochburg der rechtsextremen Szene gewesen zu sein. Dort hat der NSU (...) sich zunächst niedergelassen, als er untergetaucht ist. Vor allem aber ist Chemnitz die drittgrößte Stadt Sachsens, dem ostdeutschen Bundesland, in dem die AfD ihr stärkstes Ergebnis bei den vergangenen Bundestagswahlen erzielt hat: 27 Prozent gegen einen bundesweiten Durchschnitt von 12,6 Prozent. Die Stimmung dort scheint bedrückend zu sein für alle, die nicht weiß sind."

Die italienische La Repubblica kommt nicht umhin, in den Szenen aus Chemnitz eine gewisse Ironie zu erkennen:

"Als die Neonazis die Hand zum Hitlergruß hoben, war die Situation in Chemnitz schon außer Kontrolle. (...) Der Tag der harten Zusammenstöße zwischen Demonstranten der extremen Rechten und Antifaschisten endete mit einigen Verletzten. Das, was sich in der Stadt - die ironischerweise einst Karl-Marx-Stadt hieß - abgespielt hat, sind Szenen, die man in Deutschland seit längerem nicht gesehen hat. Und die Neonazis haben sich für ihr Treffen - weitere Ironie - ausgerechnet die Statue des Vaters des Kommunismus ausgesucht."

Für die britische Zeitung The Guardian liegen die Gründe für die Ausschreitungen in der Vergangenheit der ostdeutschen Bundesländer:

"Die DDR staute wirtschaftliche Probleme an, die die Wiedervereinigung nicht gelöst hat. Und sie tolerierte totalitäre Ideen. Die kommunistische Führung zelebrierte zwar den Sieg über Nazideutschland, aber sie baute keine Zivilgesellschaft oder demokratische Institutionen auf. Der Osten erlebte nicht die traumatische aber notwendige Selbstzerfleischung, die die Nachkriegsgeneration in Westdeutschland durchmachte. Die Politik der DDR war nicht in gleicher Weise von einem Ethos der Sühne geprägt. Dieses Versäumnis drückt sich nun aus in einer geringeren Widerstandskraft gegenüber dem Faschismus."

Die NZZ aus der Schweiz kritisiert die Reaktionen der deutschen Politik auf die Geschehnisse von Chemnitz:

"Alexander Gauland, einer der beiden Fraktionschefs der AfD im Bundestag, bestritt rundheraus, dass spezifische sächsische oder ostdeutsche Gegebenheiten zu den Ausschreitungen beigetragen hätten. "Wenn eine solche Tötungstat passiert, ist es normal, dass Menschen ausrasten. Das ist in Freiburg nicht anders als in Konstanz oder eben in Chemnitz", sagte er der "Welt". Die Absurdität seiner Aussage war offensichtlich, denn anders als in Freiburg und Konstanz hatten nur in Chemnitz Tausende eine derartige Gewalttat zum Anlass genommen, einem Demonstrationsaufruf einer rechtsextremen Organisation zu folgen. (...) Als Ostdeutschen-Versteher versuchte sich Wolfgang Kubicki (FDP), einer der Vizepräsidenten des Bundestages. Dabei wirkte er allerdings eher ratlos als analytisch überzeugend: Seit der Wiedervereinigung sei es nicht gelungen, "die in Ostdeutschland lebenden Menschen zu integrieren und ihnen Wertschätzung zu demonstrieren", sagte er den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. (...) Insgesamt offenbaren die Wortmeldungen über "Chemnitz" bis jetzt vor allem eines: wachsende Ratlosigkeit. Dass die Debatte kathartische Wirkung entfalten wird, wäre wünschenswert, ist aber angesichts ihres bisherigen Verlaufs nicht zu erwarten."

Der österreichische Standard appelliert an die deutschen Politiker und Politikerinnen, den Rechten etwas entgegenzusetzen:

"Menschen wurden verletzt, der Hitlergruß war zu sehen. Und das alles, weil viele Selbstjustiz mittlerweile für eine praktikable Lösung halten - nach dem ebenso irrigen wie brandgefährlichen Motto: Wenn der Staat uns nicht schützen kann, dann tun wir es selbst. Wenn dies gelingt, wenn Polizisten hilflos danebenstehen, dann hat der Rechtsstaat abgedankt, dem Faustrecht sind Tür und Tor geöffnet. Die Bilder aus Chemnitz waren erschreckend, doch viel schlimmer ist ja ein Gedanke, der nicht mehr zur Seite zu wischen ist: derjenige nämlich, dass Chemnitz überall sein könnte. (...) Die Politik in ganz Deutschland muss Chemnitz als Warnschuss begreifen. Es braucht Gegenstrategien. Und es wäre gut, würde man diese mindestens mit jener Verve und Vehemenz diskutieren, die Teile der Politik aufbringen, wenn es darum geht, wie schnell abgelehnte Asylwerber Deutschland wieder verlassen müssen."

Die französische Tageszeitung Le Monde sieht vor allem Angela Merkel in der Verantwortung:

"Von nun an muss die Regierung Merkel handeln, und zwar schnell, wenn sie zeigen will, dass sie wirklich die Oberhand hat. Für die Kanzlerin geht es nicht mehr darum, ein Deutschland in Aussicht zu stellen, in dem man "gut und gerne leben" will. Sie muss ganz grundlegend all ihren Bürgern - egal welche Nationalität, Religion oder Hautfarbe sie haben - garantieren, dass sie sich in einem Land befinden, in dem sie ohne Angst leben können."

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