Jugend und Politik:Und was ist mit uns?

Vier Jugendliche sitzen auf dem Boden und schauen in ihr Smartphone model released Copyright xMEV

Bei ihren Schreibkursen merkt Mirijam Günther immer wieder, dass es den Jugendlichen an politischer Bildung mangelt.

(Foto: imago)

Unsere Autorin macht mit benachteiligten Jugendlichen Schreibwerkstätten. Und merkt seit Jahren, dass sich diese Menschen von der Politik völlig verlassen fühlen. Ein Drama in zehn Szenen.

Von Mirjiam Günter

"Ich finde es nicht gut, dass die Flüchtlinge, wenn sie nach Deutschland kommen, alle ein Smartphone bekommen", beschwert sich eine Schülerin in einer Kleinstadt in Hessen. Ich bin zu einer Literaturwerkstatt eingeladen, wie ich sie seit über zehn Jahren im deutschsprachigen Raum gebe, besonders für benachteiligte junge Menschen. An diesem Nachmittag haben mich die Schüler gefragt, ob wir uns mal über Politik unterhalten könnten, das würde sonst keiner mit ihnen machen. Die Schüler, Schulverweigerer, sollen hier ihre letzte Chance nutzen, um einen Schulabschluss nachzuholen. Einige von ihnen waren, angeblich von Schulen und Eltern unbemerkt, fast zwei Jahre lang nicht mehr in eine Schule gegangen. Alle wissen, was Armut bedeutet. Sie tragen teilweise die gesamte Verantwortung für ihre nicht intakten Familien. Zukunftschancen rechnet sich hier keiner aus.

"Wo bekommen die Flüchtlinge die Handys?" frage ich. "An dieser Stelle, wenn die über die Grenze kommen", bekomme ich als Antwort. "Ja, stimmt", pflichtet ihre Sitznachnachbarin bei, und auch andere in der Klasse nicken. "Könnt ihr mir sagen, wo genau die Stelle ist, an der man das Smartphone bekommt? Ich kenne ein paar Flüchtlinge, die würden sich richtig freuen, auch eines zu haben und wer weiß, ich werde ja auch oft für einen Flüchtling gehalten, fällt für mich auch so ein Ding ab?" Sie schauen mich irritiert an. "Woher habt ihr denn die Info?" "Das weiß man doch." "Steht im Internet." "Stimmt das etwa nicht?", möchte ein Junge wissen. "Natürlich nicht! Habt ihr keinen Politikunterricht?" frage ich sie. "Nein, nie gehabt", bekomme ich zur Antwort.

"Also, ich bin ja selbst Ausländerin, aber mit den ganzen Flüchtlingen, das geht nicht, da geht unser System kaputt." Da geben ihr auch andere Mitschüler, mit und ohne Migrationshintergrund, recht. "Meiner Mutter ist das Kindergeld gestrichen worden, weil so viele Flüchtlinge gekommen sind", beschwert sich ein Junge. Ein paar Tage später kam dann heraus, dass vergessen wurde, einen Folgeantrag zu stellen.

Politisches Unwissen ist vorhanden, aber interessiert sind alle. Nur, wo sollen sie sich informieren? Oder gar engagieren? Klar gibt es die Nachwuchsorganisationen der Parteien, klar gibt es politische Gruppierungen, wo sich Schülerinnen und Schüler einbringen können. Aber möchte ich als junger Mensch, der sieht, wie seine Eltern sich abrackern und trotzdem nicht über die Runden kommen, der selbst Schwierigkeiten hat, eine Ausbildungsstelle zu finden, wirklich bei einer Organisation mitmachen, in der fast alle Abitur machen und sich über ihre Auslandsaufenthalte unterhalten? Klar könnten diese jungen Leute politische Veranstaltungen besuchen. Manchmal fällt Politikern ein, dass man ja so etwas wie einen Dialog mit Bürgern "auf Augenhöhe" veranstalten kann. Dann ist die Frage, welche Bürger sich angesprochen fühlen bei gewissen Themen. Ist es ein primäres Problem dieser jungen Menschen, ob ein chices Einkaufszentrum in der Nachbarschaft gebaut wird, wenn die Familie nicht weiß, wie sie die Miete bezahlen soll? Wenn ihre größte Angst ist, dass der Herd nicht mehr funktioniert, weil sie wissen, dass sie sich weder einen neuen noch einen gebrauchten kaufen können?

In einem Nest in Bayern, in dem im Oktober die Sonne nicht aufgehen will, gehe ich mit zwei pubertierenden Jungen aus einem Heim nach einer Literaturwerkstatt einen Kaffee trinken. "In den Osterferien fahren wir mit unserer Gruppe nach Griechenland", erzählt einer der beiden. "Da holen wir uns das Geld, das die Griechen uns schulden, zurück", sagt sein Freund.

Politische Bildung fehlt

"Wem uns? Uns dreien?", will ich wissen. "Weiß ich nicht. Das hat uns ein Erzieher gesagt." "Habt ihr in der Schule Politikunterricht?", will ich wissen. "Nee, immer wenn ich was frage, sagen die Erwachsenen, dass ich das eh nicht verstehen würde." Warum gibt es für diese Heranwachsenden keine politische Bildung?

In einer Förderschule lese ich den Schülern aus einer Broschüre vor, in der die EU erklärt wird. Das Heft ist in Großbuchstaben und laut eigener Werbung in einfacher Sprache, für genau diese Zielgruppe geschrieben. Auf Seite drei höre ich auf, da ich merke, dass keiner mehr zuhört. "Habt ihr etwas verstanden?" frage ich die 14- bis 16-Jährigen. Schweigen. "Komm, was habe ich gerade vorgelesen?" "Mirijam, kannst Du uns das noch mal erklären, ich habe nichts kapiert", gibt ein Junge zu. Ich erkläre die drei Seiten in meinen eigenen Worten. "O.k., kapiert", bekomme ich zu hören. Vielleicht wäre es sinnvoll, die Zielgruppe bei der Herstellung solcher Schriften einzubeziehen.

"Warum kommen die Flüchtlinge alle hierher?"

In einem Berufsbildungswerk fragt mich eine 19-Jährige: "Warum kommen die Flüchtlinge alle hierher? Warum gehen die nicht nach China? Da gibt es doch schon so viele Leute, da fällt das nicht auf. Wir haben hier genug Probleme. Um uns kümmert sich keiner, niemand interessiert sich für uns. Auch nicht die Politiker." Ein Satz, der immer wieder gesagt wird. An den Orten, an die es mich verschlägt, kommt nur äußerst selten ein Politiker vorbei. Manchmal kommt aber einer von diesen Menschen bei den Politikern vorbei.

Ein SPD-Stand in NRW, der von zwei gut gekleideten Herren um die dreißig betreut wird. Ein älterer Herr in Bauarbeiterkleidung - man sieht ihm an, dass er Zeit seines Lebens körperlich gearbeitet hat - erzählt den beiden mit Tränen in den Augen, dass er immer die SPD gewählt habe, dies aber jetzt nicht tun könne und gar nicht mehr wählen gehe, weil keine der Parteien für ihn da sei. Statt mit dem Menschen zu reden, machen sich die beiden über ihn lustig und imitieren seine fehlerhafte Aussprache. Immer noch mit Tränen in den Augen geht der ältere Herr, während sich die beiden jungen Männer über ihn amüsieren. Ich gehe zu ihnen und frage sie, ob sie sich nicht schämen? Sie schauen mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. Für mich hat sich diese Szene als Sinnbild dafür eingebrannt, dass ein Teil der Bevölkerung von der Politik vergessen wurde.

Diesen älteren Herrn und so viele andere wird die Politik, egal welcher Partei, nicht mehr zurückgewinnen können. Warum? Unter anderem, weil die politische Elite die Probleme nicht kennt, die diese Menschen beschäftigen. Kaum ein Mensch aus der Arbeiterschicht sitzt im Bundestag. Weiß einer der Abgeordneten, was es heißt, in Armut zu leben? Was es für ein Gefühl ist, mühsam seine Zahnlücke zu verbergen, während mich Politiker mit ihren strahlend weißen Zähnen von den Wahlplakaten anlächeln? Was hat mein täglicher Überlebenskampf mit dem Leben der politische Akteure zu tun? Wer von ihnen weiß, was es heißt, einen Tag zu spät seinen Lohn zu bekommen? Eine Meldung im Briefkasten zu finden, dass der Strompreis steigt? Seinen Kindern noch nicht mal einen Zoobesuch bieten zu können? Wer kennt solche Ängste und Zustände und ist aktiv und verantwortlich in der Politik?

Wenn ich mich mit solchen Problemen herumschlagen muss, die die politisch Verantwortlichen nicht kennen und nicht bekämpfen, wieso sollte ich sie dann wählen? Mein Geld reicht nicht aus, um im Biosupermarkt einkaufen zu gehen, trotzdem liebe ich meine Kinder. Und ich merke sehr wohl, wenn sich andere über mein vermeintliches Bildungsdefizit lustig machen. Ich merke, dass sie meine Art der Lebensgestaltung für falsch halten. Und da sie mich für dumm halten, verbieten sie mir das Rauchen in der Kneipe, wo ich mich mit meinen Schicksalsgenossen ab und zu treffe und mir drei Bier leiste. Sie tadeln mich für meinen ungesunden Lebensstil, weil ich meine Kinder in Fast-Food-Ketten einlade. Der Burger kostet dort aber nun mal nur einen Euro.

Da niemand aus meiner Schicht in der Politik sitzt, gibt es niemanden, der für mich Partei ergreift und sich für meine Rechte einsetzt. Früher gab es in der außerparlamentarischen Linken Menschen, die sich bei Arbeitskämpfen eingemischt haben. Sie sind etwa zu Streiks von Leiharbeitern oder bei Putzfirmen gefahren. Sie haben mit ihrem Wissen die Leute unterstützt. Von solchen solidarischen Aktionen hat sich die Linke großteils verabschiedet. Stattdessen sitzen sie mit ihrer eigenen Sprache und veganem Essen auf Plenas und zerfleischen einander.

"Wenn ich die Politiker im Fernseher reden höre... Das wenige, was ich verstehe, hat nichts mit mir zu tun. Wieso sollte ich mich für die interessieren? Die interessieren sich ja auch nicht für mich", erzählt mir eine Putzkraft an einer Schule. Was soll ich der Frau raten? Dass sie doch bitte nach ihrem anstrengenden Job, der sie so gerade leben lässt, eine Veranstaltung besuchen soll, bei der sich das Bildungsbürgertum über politische Themen unterhält? Ich gehe oft zu Veranstaltungen, zu denen politische Akteure einladen. Es ist fast immer die gleiche Klientel da. Woran man sie erkennt? Sie reden darüber. Und sollte sich doch mal jemand aus einer anderen Schicht dorthin verirren, wird er so lange beäugt, bis er sich nicht mehr wohlfühlt und geht. Schon durch die Sprache wird man ausgegrenzt. Da das Bildungsbürgertum stets unter sich bleibt, spricht es eine Sprache, die außer ihm keiner versteht.

Die Menschen, denen ich immer wieder begegne, haben nicht das Gefühl, dass sie mit den politischen Akteuren etwas verbinden. Eine der wenigen Ausnahmen ist der Bezirksbürgermeister von Köln-Ehrenfeld, Josef Wirges, Jahrgang 1952. Zu dem Bezirk gehören aber auch ärmere Stadtteile wie Bickendorf und Bocklemünd, mit deren Stimmen er gewählt wurde. Im Hipsterbionadenstadtteil Köln-Ehrenfeld wirkt er wie aus der Zeit gefallen. Er spricht, was man in Köln trinkt - Kölsch -, und man trifft ihn schon mal an der Fleischtheke. Bei einer Veranstaltung zum Bau eines Einkaufszentrums saß er mit auf dem Podium und wurde aus dem Bildungsbürgerpublikum ziemlich arrogant angemacht, ob er überhaupt wüsste, über was er da redet. Im kölschen Slang kam seine Antwort sofort: "Meinst du ich sitze hier, weil ich Schimmel in der Bude habe?" Den bildungsbürgerlichen Kritikern der "Gentrifizierung" des Stadtteils hielt er vor, dass sie ja wohl selbst die Gentrifizierer seien. Solche Typen hätten heute in der politischen Landschaft keine Chance mehr. Sie werden aber als Identitätsfiguren gebraucht. Damit sich auch endlich wieder andere Leute für politische Themen interessieren.

Es gibt auch die anderen Momente. Selten, aber doch. Mit zwei Förderschülern aus einer Schülerzeitungsgruppe fahre ich zu einem Training des VFL Bochum. Zum Abschluss stellen die beiden Schüler sich dem Trainer vor, sagen von welcher Schule sie sind, und bitten um ein Interview. Robin Dutt gibt bereitwillig und auf Augenhöhe Antworten. Die beiden Jungen fühlen sich ernstgenommen und fahren stolz nach Hause. Ein Vorbild, dieser Trainer. Warum geht das nicht immer so?

Ich frage bei einem Museum an, ob eine Gruppe von Förderschülern eine kostenlose Führung haben könnte. Ob die das denn überhaupt verstehen, fragt der Museumsmitarbeiter. Außerdem fänden die das doch bestimmt langweilig. Schon aus Trotz beharre ich auf einem Termin. Nach einer halben Stunde ist der skeptische Museumsführer wie verwandelt. Fröhlich beantwortet er die neugierigen Fragen der Schüler. Ein paar Tage später schreibt er mir eine Mail und zeigt sich begeistert von den Förderschülern. Da habe ich mit meinem Trotz vielleicht einen dazu gebracht, umzudenken. Und der Rest?

Mirijam Günter lebt in Köln. Zuletzt erschien von ihr der Jugendroman "Die Stadt hinter dem Dönerladen" (Größenwahn Verlag).

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