Digitale Debatte:Populisten im schlüsselfertigen Überwachungsstaat

Schwarze Hand über Handy mit Facebook Schriftzug und USB Stick mit Aufschrift Nutzerdaten Symbolfot

Grundrechte wie das Fernmeldegeheimnis sind Abwehrrechte des Bürgers gegen einen Staat, der in schwierigen Zeiten aus der Bahn geraten kann.

(Foto: imago/CHROMORANGE)

Digitale Plattformen und der vernetzte Staat haben auch in Demokratien ein Instrumentarium für die Rundumüberwachung geschaffen. Was passiert, wenn Autoritäre die Macht übernehmen?

Gastbeitrag von Katharina Nocun

Politische Endzeitszenarien stehen derzeit hoch im Kurs. Der gemeinsame Nenner von Geschichten wie "Vox" oder der Neuauflage von "A Handmaid's Tale" (Der Report der Magd): Sicher geglaubte Errungenschaften wie Demokratie, Pressefreiheit und Gleichberechtigung verschwinden durch eine konservative Machtübernahme. Leser und Protagonisten staunen gleichermaßen, wie schnell die aufgeklärte Gesellschaft auf der Müllhalde der Geschichte landet.

Ähnlich wie die Klassiker "Schöne Neue Welt", "1984" oder "Wir" werden auch die Dystopien unserer Zeit unter dem Eindruck politischer Drohkulissen verfasst. Nicht nur die USA erleben einen konservative Backlash. Der Front National konnte seine Kandidatin bis in die Stichwahl um das französische Präsidentenamt hieven. Würde in den ostdeutschen Bundesländern gewählt, dürfte die AfD mit Ergebnissen über 20 Prozent rechnen. So gesehen leben wir bereits heute in dystopischen Zeiten.

Andreas Eschbach hat mit "NSA" kürzlich einen Roman vorgelegt, der an diese Entwicklung anknüpft, und zwar aus ungewohnter Perspektive. Der Autor skizziert eine Welt, in der Computer und Mobiltelefone ihren Siegeszug bereits im 19. Jahrhundert angetreten haben. Der Romantitel "NSA" steht dabei für das "Nationale Sicherheits-Amt", eine noch im deutschen Kaiserreich gegründete Behörde zur Überwachung der Vorgänge im "Weltnetz". Die Machtergreifung Hitlers verändert die gesellschaftliche Rolle dieser Institution grundlegend.

In dem dystopischen Roman "NSA" bedienen sich die Nazis der digitalen Technik von heute

Auf dem Schreibtisch der Protagonistin, einer Programmiererin der Behörde, landet eines Tages etwa die Aufgabe, die Urheber von anonym verschickten Briefen mit aufrührerischem Inhalt zu ermitteln. Sie stammen laut Poststempel aus vier Städten. Dank einer umfassenden Vorratsdatenspeicherung der Telekommunikation lässt sich schnell ermitteln, welche Mobiltelefone zum Tatzeitpunkt bei Funkzellen im Umkreis verdächtiger Briefkästen eingewählt waren. Ein anschließender Abgleich der Verdächtigen enthüllt anschließend, wer wen kennt. Am Ende stehen vier Personen auf der Liste. Zwei davon tragen den Namen Scholl. Das Ende der Weißen Rose ist besiegelt.

Die NSDAP bedient sich in Eschbachs düsterer Vision systematisch neuer Technologien, um jeglichen Widerstand aus der Bevölkerung nach und nach auszumerzen. Fernseher und Handys werden mit Abhörschnittstellen versehen. Das "Weltnetz" umfassend überwacht. Intelligente Stromzähler geben Hinweise auf Verstecke von Regimegegnern. Käufer auffälliger Produkte lassen sich dank Bargeldabschaffung problemlos identifizieren. Und intelligente Kameras mit Gesichtserkennung erlauben eine permanente Rasterfahndung. Erklärtes Ziel ist die totale gesellschaftliche Gleichschaltung.

Auch ohne die Technologie von heute verübten die Nazis mit Daten Grausames. Als die Deutschen 1940 in den Niederlanden einmarschierten, fielen ihnen die Unterlagen der letzten Volkszählung in die Hände. Unter den vermeintlich harmlosen abgefragten Merkmalen war auch die Religionszugehörigkeit. In den darauf folgenden Jahren wurden mehr als drei Viertel der rund 140 000 in den Niederlanden lebenden Juden umgebracht, so viele wie in keinem anderen Land Westeuropas. Heute bräuchte es keine Volkszählung mehr um Listen von Unpersonen erstellen zu können. Längst lassen sich politische Einstellung, sexuelle Orientierung und Religionszugehörigkeit aus Facebook-Likes und Surfverhalten ermitteln.

Dass die Regierung versäumte, die Kontrolle der Geheimdienste zu stärken, könnte sich rächen

Digitale Technologien senken die Kosten von Repression in historisch einmaliger Art und Weise. Polizei und Geheimdienste können heute dank umfassender Datensilos privater Anbieter Informationen abfragen, die einer kostspieligen Rundum-Observation in nichts nachstehen. Mehr noch: Wer eine Wohnung durchsucht, weiß vielleicht, wie die Bewohner leben. Wer Zugriff auf Daten hat, weiß, wie Nutzer denken. Hinzu kommen staatliche Datensammlungen. Schätzungen zufolge soll die Speicherkapazität des großen Datenauswertungszentrums der NSA im US-Bundesstaat Utah bis zu eine Milliarde Terabyte betragen. Ausgedruckt wären das um die 42 Billionen Aktenschränke. Zum Vergleich: Die gesammelten Überwachungsakten der Stasi füllten 48 000 Schränke. Hinzu kommt: Nicht nur die Datenberge wachsen, auch die Analysewerkzeuge werden beständig verfeinert. Wir können uns heute noch gar nicht vorstellen, was sich in zehn Jahren mit derartigen Datensilos anstellen ließe.

Totalitäre Regime in Entwicklungs- und Schwellenländern gehören heute zu den besten Kunden europäischer Softwareanbieter mit Schwerpunkt Hacking und Massenüberwachung. Rein technisch sind die Unterschiede zwischen den dort und in einigen EU-Mitgliedsländern eingesetzten technischen Spielereien marginal. EU-Spitzenpolitiker weiten die Grenzen des Erlaubten für staatliche Überwachung beständig aus. Trotzdem diskutiert man über personalisierte Facebook-Werbung, als wäre dies das Kernproblem. Ein chinesisches "Social Credit" System, bei dem Behörden eines Tages staatliche und private Datensammlungen zusammenführen, um Bürger mittels Anreizen und Strafen zu erziehen, kann man sich hier nicht vorstellen. Aber warum eigentlich nicht?

Wie würde eine AfD-Regierung mit der Macht umgehen?

Würden Populisten mit einem autoritären Verständnis von Staatlichkeit heute auf die Regierungsbank gelangen, hätten sie Zugriff auf ein beängstigendes Arsenal von Repressionswerkzeugen. Mit der Vorratsdatenspeicherung lassen sich Kommunikationsströme und Bewegungsprofile von Oppositionellen und Journalisten nachvollziehen. Der Staatstrojaner gewährt Vollzugriff auf Smartphones und Computer. Polizeiarbeit wurde zunehmend in den "präventiven" Bereich verlagert und so vergeheimdienstlicht. Basierend auf Annahmen und Wahrscheinlichkeiten dürfen heute so schwere Eingriffe in Grundrechte vorgenommen werden, wie nie zuvor. In Kombination mit schwammigen Rechtsbegriffen wird daraus eine toxische Mischung. Es liegt auf der Hand, dass eine völkische Partei ein anderes Verständnis davon hat, was eine "drohende Gefahr" oder einen "Gefährder" ausmacht.

"Bei uns bekannten Revolutionen wurden irgendwann die Funkhäuser sowie die Pressehäuser gestürmt und die Mitarbeiter auf die Straße gezerrt. Darüber sollten Medienvertreter hierzulande einmal nachdenken," schrieb die AfD-Fraktion Hochtaunuskreis im August 2018 auf ihrer Facebook-Seite. Die Parteispitze ist bemüht, derartige Entgleisungen als Einzelfall darzustellen. Dabei gehören Drohungen längst zum Standardrepertoire.

Kaum ein Parteitag vergeht ohne Pöbelei in Richtung "Lügenpresse". "Der Tag wird kommen, an dem wir alle Ignoranten, Unterstützer, Beschwichtiger, Befürworter und Aktivisten der Willkommenskultur im Namen der unschuldigen Opfer zur Rechenschaft ziehen werden", sagte Uwe Junge, Landesvorsitzender der AfD Rheinland-Pfalz. André Poggenburg, ehemaliger Landeschef der AfD Sachsen-Anhalt, forderte in einer Rede im Magdeburger Landtag: "Linksextreme Lumpen sollen und müssen von deutschen Hochschulen verbannt und statt einem Studiumsplatz lieber praktischer Arbeit zugeführt werden." Auf einer Internetseite ruft die AfD seit neuestem dazu auf, Lehrer und Professoren zu denunzieren, die sich kritisch über die Partei äußern. Wie würde so eine Partei wohl mit Macht umgehen?

Was wäre, wenn die Verfassungsfeinde wieder in den Institutionen säßen?

Wie heißt es doch so schön: "Zeig mir Deine Freunde, und ich sag Dir, wer Du bist." Die AfD gratulierte sowohl Viktor Orbán als auch der polnischen PiS recht herzlich zu ihren Wahlerfolgen. Auf der Rangliste der Pressefreiheit ist Polen in den letzten Jahren um ganze 40 Plätze abgerutscht. Die polnischen Nationalisten haben das Staatsfernsehen personell auf Linie gebracht und "antipolnische Produktionen" entfernt. Anschließend wurde mit einer Justizreform die Unabhängigkeit der Justiz ins Visier genommen. Vor einem EU-Rechtsstaatsverfahren hat man in Warschau keine Angst. Was soll schon passieren? Um Polen das Stimmrecht im EU-Rat zu entziehen, müsste schließlich auch das von Viktor Orbán regierte Ungarn kooperieren - das ebenfalls mit einem solchen Verfahren zu kämpfen hat. Die neuen politischen Mehrheiten verändern das Antlitz Europas. Das weiß auch die AfD.

Eine autoritäre Wende vollzieht sich nicht über Nacht, sondern in vielen kleinen Schritten. Wer Grundrechte zum lästigen Hindernis für "effektive" Polizeiarbeit degradiert, gefährdet langfristig unser aller Sicherheit. Grundrechte wie das Fernmeldegeheimnis oder die Unverletzlichkeit der Wohnung sind Abwehrrechte des Bürgers gegen einen Staat, der in schwierigen Zeiten aus der Bahn geraten kann. Das Grundgesetz wurde vor dem Hintergrund einer real gewordenen Dystopie verfasst, in der die Würde des Individuums letztendlich nichts mehr galt. Für eine umfassende echte Sicherheit, so der Kerngedanke, bedarf es starker Bürgerrechte - als Rückversicherung gegen schlechte Zeiten. Darauf zu vertrauen, dass Befugnisse nicht missbraucht werden, ersetzt eben kein einklagbares Recht. Wer heute einen schlüsselfertigen Überwachungsstaat errichtet, nimmt in Kauf, dass autoritäre Kräfte eines Tages die Schlüssel in der Hand halten werden.

Die Geister die wir heute rufen, werden wir morgen so schnell nicht mehr los. Die neuen politischen Mehrheiten verändern bereits heute unsere Institutionen. Beschwichtigungen der Obama-Administration nach den Snowden-Enthüllungen, man brauche keine stärkere Geheimdienstkontrolle, auf die Behörden sei schließlich Verlass, wirken rückblickend geradezu weltfremd in ihrer Naivität. Hätte Donald Trump nach seinem Wahlsieg eben jene Befugnisse für die NSA gefordert, wie sie unter Bush und Obama beschlossen wurden, ein Aufschrei wäre durchs Land gegangen. So aber bleibt es still. Dass die Bundesregierung nach Snowden auch hierzulande versäumte, die parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste zu stärken, könnte sich einmal fürchterlich rächen. Statt mehr Kontrolle gab es Millionen für neue Programme zur Überwachung sozialer Netzwerke. Ohne Not wird Populisten die Blaupause für einen digitalen Totalitarismus auf dem Silbertablett serviert.

Die Feinde der aufgeklärten Gesellschaft haben den Marsch durch unsere Institutionen längst angetreten. Der neue Faschismus kommt nicht in Bomberjacke daher. Er ist gebildet, weiß sich auszudrücken und verkauft sich als intellektuelle Avantgarde. Apartheid heißt jetzt Ethnopluralismus. "Germany First" klingt besser als Isolationismus. "Von der NPD unterscheiden wir uns vornehmlich durch unser bürgerliches Unterstützerumfeld, nicht so sehr durch Inhalte", meinte Dubravko Mandic, einst im Vorstand der "Patriotischen Plattform" in der AfD.

Die Radikalisierung der bürgerlichen Mitte vollzieht sich schleichend. Gutmensch, Lügenpresse, Blockparteien - die Rechte Propaganda ist längst in den allgemeinen Wortschatz eingesickert. Götz Kubitschek verkündete vor kurzem, er wolle mit einer angeblich neu gegründeten Beratungsagentur auch CDU-Abgeordnete beraten, damit diese "den kommenden Koalitionspartner AfD" verstehen lernen. Dies stellte sich später zwar als unwahr heraus. Doch es gibt einen einfachen Grund dafür, warum viele ihm glaubten. Es existiert längst eine Nachfrage nach derartigen Diensten. Das Risiko ist real. "Institutionen sind wie Festungen. Sie müssen klug angelegt und richtig bemannt sein", schrieb einst Karl Popper. Genauso wie die Mütter und Väter des Grundgesetzes sollten wir uns bei Debatten über neue Gesetze auch heute wieder fragen: Was wäre, wenn die Verfassungsfeinde eines Tages wieder in den Institutionen säßen? Wie würde eine Regierung mit AfD-Beteiligung die heutigen Befugnisse und Werkzeuge nutzen? Die Antwort dürfte uns nicht immer gefallen.

Die Autorin ist Netzaktivistin (u.a. für Campact) und Buchautorin. Zuletzt erschien von ihr "Die Daten, die ich rief: Wie wir unsere Freiheit an Großkonzerne verkaufen".

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