Essen im Pflegeheim:Drei-Sterne-Brei

Smoothfood Geschichte

Püriertes Gemüse, hier mit Fleischfarce in Würstchenform, kann Gourmetansprüchen genügen und dennoch bezahlbar sein.

(Foto: Smoothfood)

Das Essen in Pflegeheimen verstößt oft gegen die Menschenwürde. Wieso eigentlich? Besuch bei Köchen, die wissen, wie es besser geht.

Von Nina von Hardenberg

Die Fotos haben einen Gelbstich, sie sehen nach den Siebzigerjahren aus. Man erkennt Plastikteller oder Näpfe mit grünem oder braunem Brei, halb übergeschwappt und schmierig, und in jedem Fall nicht als eine konkrete Speise zu identifizieren. Püriertes Essen ist das, wie es seit Jahrzehnten in Pflegeheimen Menschen vorgesetzt wird, die schlecht kauen oder schlucken können. "Kochen ist immer ein Beziehungsangebot. Eine Botschaft, wie ich über jemanden denke", sagt Markus Biedermann, während er die Bilder mit einem Beamer an die Wand wirft. "Diese Botschaft heißt, du gehst mir am Arsch vorbei. Fuck you."

Biedermann ruft es in den Raum, in dem er an diesem Montag ein Seminar über Smoothfood gibt - über geschmeidiges Essen, das er selbst mit erfunden hat und das auch Menschen mit Kau- oder Schluckproblemen mühelos essen können. Die drei anwesenden Köche, die Ergotherapeutin und der Hospiz-Spezialist in dem mager besuchten Kurs nicken zustimmend. Sie sind überzeugt, das Problem liegt eher bei den vielen, die nicht da sind.

Seit Jahren bietet Biedermann Seminare über Kochkunst für Altersheime an, in der Schweiz, in Österreich und Deutschland. Seit Jahren plädiert er für eine würdige Esskultur im Alter. Das Thema ist in einer alternden Gesellschaft, in der 20 Prozent der Senioren Probleme mit dem Schlucken haben, aktueller denn je, doch der Sinneswandel ist langsam.

Gesunde Küche für alte Leute - lohnt sich das überhaupt?

Die Abgründe finden sich oft in den Nebensätzen, sagt Biedermann. Wenn ein Heimleiter fragt, ob sich gesunde Küche bei alten Leuten noch lohne. Oder wenn ein Kollege erzählt, er koche jetzt zwar in einem Heim, aber zum Glück gehöre dazu auch ein Restaurant, "da könne er kreativ sein". Dabei darf ein Heimkoch nicht nur kreativ sein, er darf zaubern. Etwa den Geschmack von frisch gebratenem Schnitzel für Menschen, die fast nichts mehr runterkriegen.

Wie das geht, lernen die Teilnehmer des Heimkoch-Seminars an diesem Montag im Altenheim Tertianum Wismetpark im schweizerischen Weesen. Lehrmeister Biedermann hat zu einem Kurs mit Markus Gübeli eingeladen, einem seiner früheren Schüler, der ihn am Herd längst überholt hat. Mangoschaum darf man hier kosten und ein Birchermüsli mit Früchten, das Markus Gübeli in eine Art lila Quarkspeise mit der Konsistenz von Mousse au chocolat verwandelt hat, sowie Reissalat mit Karottenstückchen und Fleischterrine, der sich mit der Gabel butterweich teilen lässt. Feinste Gourmetküche für Senioren, es gibt sie, aber kaum ein Heim bietet sie an.

Wenn man alt und gebrechlich ist, wenig sieht und schlecht hört, ist essen oft eine der letzten Sinnesfreuden. In vielen Heimen warten die Bewohner ab dem Morgen aufs Mittagessen. Das aber bereitet oft Probleme. Etwa jeder fünfte Heimbewohner kann harte Speisen nicht mehr gut kauen, weil er schlechte Zähne hat oder das Gebiss nicht sitzt. Essen schmeckt dann fad, weil sich Aromen erst beim Zerkauen entfalten.

Etwa noch einmal so viele ältere Menschen leiden nach Schlaganfällen oder Krankheiten an Schluckstörungen. Demenzkranke etwa können von einem einzigen Himbeerkern in der Quarkspeise so irritiert sein wie Gesunde von einer Gräte im Fisch. Sie schieben das Essen misstrauisch hin und her ohne zu schlucken. Fein passierte Kost können diese Menschen sehr wohl noch essen.

Mit Brokkoli können viele Senioren nichts anfangen

Wer für ältere Leute kocht, muss sich zunächst einmal für sie interessieren, für ihre Essgewohnheiten. Ein simples Beispiel ist Brokkoli: Viele Senioren können mit dem Gemüse wenig anfangen, weil es erst in den 70er-Jahren nach Deutschland kam. Markus Biedermann war schon in Heimen, wo sie Couscous und Amarant gekocht haben, sicher gesund, aber geschmacklich auch meilenweit entfernt von einer Generation, für die zum Fleisch auf dem Teller noch Petersilienkartoffeln, weiche grüne Bohnen und braune Soße gehörten. Auch der Geschmacksinn ändert sich im Alter. Wenn die Nase schwächer wird, stechen bittere Aromen stärker hervor.

Einer seiner ersten Arbeitsplätze in einem großen Pflegeheim war prägend für Biedermanns ganzes späteres Leben als Koch. 250 Essen wurden dort mittags zubereitet. 50 davon püriert, für die Bewohner mit Kauschwierigkeiten. Die Köche gingen also in die Kühlkammer und schauten, was vom Vortag übrig war. Warfen Fleisch- und Gemüsereste in den Fleischwolf, schöpften Suppe dazu und stellten das ganze ins Wasserbad. "Mittags war das dann warm - nicht mal heiß", betont er, "und natürlich auch nicht abgeschmeckt".

Ein Patient postete Brei-Fotos auf Facebook - die Netzgemeinde war schockiert

Vielerorts sei es immer noch so. Biedermann kann das nicht akzeptieren. Es ist für ihn auch eine Frage des Berufsstolzes. Hinter lieblosem Essen aber steckt meist knallhartes wirtschaftliches Kalkül. Pro Bewohner können Pflegeheime täglich nur zwischen 4,80 Euro und 5,20 Euro ausgeben, den genauen Betrag handelt jedes Heim individuell mit den Krankenkassen und den Sozialhilfeträgern aus.

Auch bei Küchenmitarbeitern wird gespart, weshalb sich immer mehr Heime Menüs fertig oder halbfertig anliefern lassen. Dabei wäre aus pflegerischer Sicht genau das Gegenteil richtig: Es müsste vielmehr mit den alten Menschen zusammen gekocht werden, was in den besseren Heimen auch passiert: Wer ein Stückchen Teig knetet, spart sich manche Feinmotorik-Übung bei der Physiotherapeutin.

"Köche müssten den gleichen Status wie Ärzte haben, denn sie tragen zur Genesung bei", findet Drei-Sterne-Koch Thomas Bühner, der sich selbst für Menschen mit Schluckbeschwerden einsetzt und Krankenhäuser berät. Ändern aber wird sich wohl erst etwas, wenn sich die Menschen selbst wehren. Wie das geht, zeigte ein jüngerer Heimbewohner, der kürzlich auf Facebook unter "Jürgen fotografiert sein Essen" Bilder seiner mageren Mahlzeiten teilte. Und plötzlich empörten sich alle.

Heimköche, die ihr eigenes Essen probieren müssen, kochen plötzlich sehr viel besser

Lieblos zu kochen, stellt auf Dauer auch die Köche kaum zufrieden, davon ist Biedermann überzeugt. In der Heimküche, in der er vor 30 Jahren anfing, nötigte er daher die Mitarbeiter eine Woche lang, ihr Gekochtes selbst zu essen. Neue Ideen kamen dann schnell. Die Köche wollten nicht mehr alle Speisen zusammengerührt haben, sondern getrennt püriert, und plötzlich servierten sie alles heiß und abgeschmeckt.

Biedermann begann damals, mit geschichteten Gemüseflans zu experimentieren. Püriertes Gemüse, das im Ofen mit Ei gestockt wird. Er legte auch Toastbrot in Sahne, wodurch es butterweich, aber noch als Brot erkennbar blieb, so dass man es mit Marmelade beschmieren kann. Ein einfaches Rezept, das jeder, der Menschen mit Schluckproblemen pflegt, nachmachen kann.

Die Flans hat er lange hinter sich gelassen. 2007 lernte er den deutschen Koch Herbert Thill kennen. Gemeinsam entwickelten sie das sogenannte Smoothfood, eine geschmeidige Kost, die Techniken der Molekularküche nutzt, um püriertes Essen in optisch ansprechende Formen zu bringen. In der Großküche im schweizerischen Weesen lassen die Kursteilnehmer an diesem Tag Himbeersaft in kaltes Rapsöl tropfen, so dass fein schmeckende Himbeerperlen entstehen. Sie pusten Vanillecreme zu luftigem Schaum, und sie kochen Aprikosen wie für eine Marmelade auf, um sie später, passiert und mit einem Bindemittel vermischt, in Halbkugel-Formen wieder fest werden zu lassen, so dass sie wie halbe Aprikosen aussehen und auch so schmecken.

Smoothfood Geschichte

Fruchtgeleewürfel auf Cremespiegel.

(Foto: Smoothfood)

Das Verfahren funktioniert auch mit Hühnerfleisch, das in Hühnchenschenkelformen gegossen wird. Eine Art butterweiche Fleisch-Terrine, die echten Hühnerschenkeln täuschend ähnelt. Darüber kann der Heimkoch trotzdem Soße gießen und daneben dekorativ einige gelierte Tomatensoßenwürfel aufschneiden, als wären es frische Tomaten. So bietet das Essen Abwechslung.

Bei der Frage, ob wir ein Essen lustvoll genießen, kommt es nicht nur auf den Geschmack an, sondern auch auf die Konsistenz. Die Zunge wünscht sich ein nebeneinander von flüssigem, weichen und festeren Texturen. Ein guter Salat verbindet in Soße getränkte Blätter mit knackigen Karotten und knusprig gerösteten Körnern. Niemand möchte jeden Tag Brei essen, und sei er auch noch so schmackhaft.

Gute Seniorenstifte haben eine offene Küche, in der die Bewohner mitmachen können

In Sterneküchen wird Essen seit Jahrzehnten dekonstruiert und rekonstruiert. Es gibt Saftperlen, Fleisch in Pulverform, Schäume. Markus Biedermann hat sich Teile dieses Wissens zunutze gemacht und zum Beispiel einen Frühstücksschaum für alte Leute kreiert. Nichts ist unmöglich. Man kann sogar Menschen, deren Zunge nicht einmal mehr weiche Speisen zerdrücken kann, Geschmack von frisch gebratenem Schnitzel in den Mund pusten, wenn sie das wünschen. Essen für Senioren müsse bestimmte Nährstoffe beinhalten, predigen die Diätköche in den Heimen. "Essen muss zunächst einmal schmecken", sagt dagegen Sternekoch Thomas Bühner. Bei der pürierten Kost ist das eine Herausforderung, denn durch zusätzliches Wasser wird der Brei fader und auch nährstoffärmer.

Wenige haben die geschmeidige Kost so perfektioniert, wie Markus Gübeli. Der Koch des Altenstifts Tertianum hat sie zur Kunstform erhoben, bei ihm sieht sie nicht nach Essen für Zahnlose sondern eher nach Sterneküche aus. Am vergangenen Weihnachtsfest gab es bei ihm deshalb Smoothfood für alle Bewohner und auch für alle Gäste.

Die Vorspeise las sich so: "Geschäumter Eisbergsalat mit Maispoulardenwürstchen, Smooth-Canapé und Apfelluft". Gübeli aber hat für seine Gerichte nicht mehr Geld zur Verfügung als andere Küchenchefs. Sein Geheimnis ist persönlicher Einsatz, ein motiviertes Team und gute Organisation. Er achtet genau auf die Mengen, kocht lieber 80 Gramm Fleisch schön angerichtet, als lieblose 120, von denen die Hälfte liegen bleibt.

Biedermanns Speisen gibt es jetzt auch für die Tiefkühltruhe

Mit der Kunst kam irgendwann der Erfolg. Hatte sich jahrelang niemand für die "Kost in Form" interessiert, wie Markus Biedermann seine Kocherfindung zunächst nannte, so kam mit Smoothfood endlich das Interesse. Plötzlich lud das Fernsehen ihn ein und danach meldete sich eine Firma, die eine Tiefkühlvariante der Speisen auf den Markt bringen wollte. Seit einiger Zeit bietet der Großhandel von der Smoothfood AG tiefgekühlte Frühstücksschnittchen in butterweicher Konsistenz an, ebenso wie fertige Menüs. Auch Firmen wie Dr. Oetker oder der Heim-Caterer Apetito drängten gleichzeitig auf den Markt. Es habe sich dank Markus Biedermann in der Heimküche zuletzt viel bewegt, sagt Ralf Oberle, der bei Apetito für die Geschäftsentwicklung zuständig ist. "Wenn er nicht Schweizer wäre, müsste man ihn für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen."

Markus Biedermann selbst sieht das Angebot trotzdem mit gemischten Gefühlen. Natürlich ist das gut für die Bewohner, die sonst einen Restebrei vorgesetzt bekämen. Im Idealfall kann es auch die Küche entlasten, so dass zum Beispiel Zeit zum Plätzchenbacken mit den Bewohnern bleibt. Gut ist es auch für die Menschen, die zu Hause gepflegt werden, und bislang oft nur Hipp-Gläschen gefüttert bekommen. Für sie wollen Biedermann und Thill jetzt ein Angebot in den Supermärkten schaffen.

ber eine Heimküche könne so viel mehr sein, sagt Biedermann: "Wir sind Ess-Kümmerer." Ein guter Heimkoch muss sich mit den Menschen unterhalten und ihre Vorlieben kennen. Ein gutes Heim hat eine offene Küche im Eingangsbereich, die Bewohner aus ihren Zimmern lockt, weil es so viel Spaß macht, beim Kochen zuzuschauen. Einem guten Koch sollte es Ehre und Anspruch sein, für alte Menschen so zu kochen, dass sie sich gewertschätzt fühlen, findet Biedermann. Es sei ganz erstaunlich, wie viele man über den Magen erreichen könne.

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