Steinmeier zum 9. November:Deutlicher kann ein Staatsoberhaupt kaum werden

Frank-Walter Steinmeier plädiert für einen "Patriotismus mit leisen Tönen und mit gemischten Gefühlen" - und dafür, die Revolution von 1918 und die Weimarer Republik weniger stiefmütterlich zu behandeln.

Von Nico Fried, Berlin

Der Ort, wo es geschah, ist nicht weit weg. Man muss vom Rednerpult des Bundestages aus nur einmal durch den Plenarsaal gehen, durch die Glastür, nach links und nach etwa 20 Schritten wieder nach rechts. Dann kann man an das Fenster des Reichstagsgebäudes treten, zu dem sich Philipp Scheidemann am 9. November 1918 begab und dafür nach eigener Darstellung sein Mittagessen unterbrach, weil er den Sozialisten zuvorkommen wollte. "Es lebe die deutsche Republik", rief der Sozialdemokrat.

Feierstunde im Parlament, 100 Jahre später. Ende der Monarchie und Ausrufung der Republik. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble eröffnet diese besondere Sitzung und nennt den 9. November den "Schicksalstag" der Deutschen.

"Es lebe die deutsche Republik", sagt der Schauspieler Ulrich Matthes, der am Rednerpult vor dem nicht voll besetzten Plenum des Bundestages von mehreren überlieferten Versionen der Rede Scheidemanns die wahrscheinlichste vorträgt.

"Es lebe die deutsche Republik", ruft dann der Bundespräsident. Frank-Walter Steinmeier ist ins Parlament gekommen, um den "gewaltigen Umbruch" von damals zu würdigen. Auf der Galerie sitzen einige seiner Vorgänger, Christian Wulff, Horst Köhler und Joachim Gauck. Vor ihm haben Bundesratspräsident Daniel Günther, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Wolfgang Schäuble und Kanzlerin Angela Merkel Platz genommen. Außerdem ruhen die Augen seiner Frau, Elke Büdenbender, wohlwollend auf dem Gatten am Rednerpult.

Die Revolution von 1918 stehe für "eine tiefgreifende Zäsur" in der deutschen Geschichte, sagt das Staatsoberhaupt. Das Wahlrecht für Frauen - an dieser Stelle erhält Steinmeier den ersten Applaus, begleitet von einem Lächeln der Bundeskanzlerin -, die republikanische Verfassung einer parlamentarischen Demokratie, aber auch die Fundamente des Sozialstaats, von Tarifpartnerschaft und Mitbestimmung stammten aus dieser Zeit. Trotzdem sei der 9. November 1918 "ein Stiefkind unserer Demokratiegeschichte", sagt der Bundespräsident.

Das habe vor allem zwei Gründe: Zum einen, so Steinmeier, weil man jene Demokratie der Weimarer Republik, die damals begann, fast nie von ihrem Anfang, sondern "meist von ihrem Ende", dem 30. Januar 1933, her denke. Und zum anderen, weil mit dem 9. November auch die Pogrome gegen Juden 20 Jahre später verbunden sind. Der Bundespräsident nennt das eine "Ambivalenz der Erinnerung".

Die Anschläge auf jüdische Bürger am 9. November 1938, die Zerstörung von Synagogen und die Plünderung von Geschäften seien die Vorboten von Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden gewesen. "Wir wissen um unsere Verantwortung, die keinen Schlussstrich kennt", sagt Steinmeier. Später wird er noch hinzufügen: Man könne diese Bundesrepublik nicht begründen ohne die Katastrophen zweier Weltkriege, ohne das Menschheitsverbrechen der Shoah. Aber die Bundesrepublik erkläre sich "auch nicht allein ex negativo, nicht allein aus dem "Nie wieder!".

Deshalb will er an diesem Tag den 9. November 1918 besonders herausstellen. Ein "Meilenstein der Demokratiegeschichte" sei dieser Tag gewesen, der "einen herausragenden Platz in der Erinnerungskultur unseres Landes" verdiene. Es stimme auch nicht die Behauptung, dass die Weimarer Republik eine Demokratie ohne Demokraten gewesen sei. Viele Frauen und Männer hätten allen Anfechtungen zum Trotz Verantwortung übernommen und danach "viel zu lange im Schatten der Geschichte" gestanden. Und ein großes Verdienst der Weimarer Republik sei gewesen, dass man aus ihren Irrtümern habe lernen können, so Steinmeier.

Der 9. November stelle "verdichtet in einem einzigen Datum", die wohl schwierigste und schmerzhafteste Frage der deutschen Geschichte: Wie aus dem Aufbruch in demokratische Selbstbestimmung und dem breiten gesellschaftlichen Fortschritt eine Diktatur werden konnte, die ganz Europa mit Krieg und Vernichtung überzog. Erinnerung allein genüge nicht. "In unserem Handeln müssen wir beweisen, dass wir wirklich gelernt haben, dass wir wachsamer geworden sind im Angesicht unserer Geschichte."

An dieser Stelle schlägt er besonders deutlich den Bogen in die Gegenwart. Es ist ein sensibler Moment während dieser Rede, sowohl wegen der gesellschaftlichen Polarisierung als auch wegen ihrer politischen Abbildung im Parlament. Man müsse streiten für die Demokratie, handeln, wo auch immer die Würde des anderen verletzt werde, sagt Steinmeier; gegensteuern, wenn eine Sprache des Hasses um sich greife, wenn einige behaupteten, allein für das Volk zu sprechen, andere ausgrenzten und einzelne Gruppen zu Sündenböcken erklärten, "wenn Menschen einer bestimmten Religion unter Generalverdacht gestellt werden". Deutlicher kann ein Staatsoberhaupt kaum werden, angesichts der Angriffe der AfD auf den Islam. Der Applaus aus dem Plenum, der Steinmeier an einer Stelle unterbricht, ist nicht geschlossen, aus den Reihen der AfD kommt er nur vereinzelt.

Doch Steinmeier warnt auch in eine andere Richtung: "Wenn bisweilen in raunenden Tönen vor 'Weimarer Verhältnissen' gewarnt wird, dann weise ich das entschieden zurück." So mache man "unsere Demokratie kleiner und ihre Gegner größer, als sie sind". Da erhält er breiten Applaus. Später sagt er: "Berlin ist nicht Weimar und wird es nicht werden." Wer immer nur vor der Wiederkehr des Gleichen warne, "droht neue Herausforderungen aus den Augen zu verlieren". An dieser Stelle kommt der Beifall nur aus der AfD. Der Bundespräsident wirkt für einen Moment irritiert.

Steinmeier plädiert für einen "aufgeklärten Patriotismus" , der stolz sein könne auf die Traditionen von Freiheit und Demokratie, die sich auch am 9. November 1989 manifestiert hätten, "dem glücklichsten 9. November unserer Geschichte", ohne aber den Blick in den Abgrund der Shoah zu verdrängen. Es sei "ein Patriotismus mit leisen Tönen und mit gemischten Gefühlen". Dazu gehöre auch, den Verächtern der Freiheit nicht das Schwarz-Rot-Gold, die Farben der Freiheitsbewegung, zu überlassen.

Am Ende kehrt Steinmeier an den Anfang zurück. "Es lebe die deutsche Republik", sagt er. Aber er fügt noch einen Satz hinzu: "Es lebe unsere Demokratie." Steinmeier erhält langen Applaus. Die Abgeordneten erheben sich. Soweit sichtbar: alle.

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