Fußball in Argentinien:Herz oder Hölle

ARGENTINE FORMER SOCCER STAR MARADONA CHEERS HIS TEAM BOCA JUNIORS DURING  A SOCCER MATCH AGAINST RIVER PLATE

Erst Bocas berühmtester Spieler, dann Bocas berühmtester Fan: Diego Maradona auf der Tribüne der Bombonera, bei einem Superclásico gegen River Plate im Jahr 2001.

(Foto: Enrique Marcarian/Reuters)
  • Zum ersten Mal in der Geschichte der Copa Libertadores - der südamerikanischen Champions League - treffen Boca Juniors und River Plate, die Erzrivalen aus Buenos Aires, im Finale aufeinander.
  • Befürchtet werden Ausschreitungen der rivalisierenden Fans. Seit Tagen diskutieren in den Sportteilen der Zeitungen Politiker, Sicherheitsexperten und Kardiologen über das Spiel.
  • Seit 2008 sind in Argentinien am Rande von Fußballspielen 98 Menschen gewaltsam ums Leben gekommen. Obwohl seit 2013 gar keine Fans mehr zu Auswärtsspielen ihrer Mannschaft mitreisen dürfen.

Von Javier Cáceres

An sein erstes Spiel in der "Bombonera", dem Stadion von Boca Juniors, hat der frühere argentinische Weltmeister Jorge Valdano noch immer plastische Erinnerungen. Obwohl die Partie lange zurückliegt, mehr als 40 Jahre schon.

Valdano zog sich in der Kabine gerade die Stutzen hoch, als er ein Zittern verspürte. Neben ihm saß ein Veteran seiner Mannschaft, und er muss in Valdanos Augen einen Anflug von Verstörtheit erkannt haben. Oder gar Angst.

"Das bist nicht du, Junge", sagte er zu Valdano. "Es ist das Stadion, das bebt."

Wobei die Anhänger von Boca Juniors sich genau das verbitten. Die "Bombonera" bebt nicht, sagen sie. Obwohl jeder, der einmal miterlebt hat, was das Hüpfen der Fans auf den Rängen bewirkt, genau weiß, dass sie doch bebt. Obwohl vor ein paar Jahren mal ein Seismograf installiert wurde, der bei Toren von Boca Erdstöße feststellte, die bei einer Stärke von 5,9 bis 6,4 lagen.

"Die Bombonera bebt nicht", sagen ihre Bewohner dennoch. "Sie pocht."

Wie ein Herz.

Die Bombonera, in einem Viertel der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires gelegen, das "La Boca" heißt, ist an diesem Samstag die Bühne des ersten Kapitels einer Schlacht, die es scheinbar immer und ewig gegeben hat, die nun aber eine neue, beispiellose Dimension erfährt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Copa Libertadores - der südamerikanischen Champions League - treffen Boca Juniors und River Plate, die Erzrivalen aus Buenos Aires, im Finale aufeinander. Superclásico , so wird die Begegnung der beiden Klubs in Argentinien genannt, formal geht es diesmal um den zehn Kilo schweren Pokal aus Silber und Zedernholz, die wichtigste Trophäe des kontinentalen Fußballs.

Doch es gibt keine Hyperbel, an die in den vergangenen Tagen nicht appelliert, keinen Superlativ, der am Rio de la Plata nicht bemüht worden wäre. In den Sportteilen der Zeitungen kamen nicht mehr in erster Linie die Fußballexperten zu Wort. Sondern Politiker, Sicherheitsexperten oder Kardiologen, die im Lichte der bevorstehenden Jahrhundertschlacht dazu aufriefen, Routineuntersuchungen vorzuziehen. Und natürlich die Psychologen, die den Umsatz von Beruhigungsmitteln wie Lexotabil und Trapax in die Höhe trieben. Denn das Land befindet sich in einem Stadium akuter Beklemmung.

Staatspräsident Mauricio Macri, der von 1995 bis 2007 als Präsident von Boca Juniors zu jenem Ruhm kam, der ihn Ende 2015 ins höchste Staatsamt spülte, sagte vor den Halbfinalspielen (in denen River gegen Grêmio Porto Alegre und Boca gegen Palmeiras siegte), dass er nicht wünsche, dass es zu einem Superclásico kommt. "Der Verlierer wird 20 Jahre brauchen, um sich von der Niederlage zu erholen", sagte er. Und er warnte, dass das Land auf den anschwellenden Bocksgesang "nicht vorbereitet" sei. Was soll man auch spüren außer Unbehagen, fragt sich Diego Latorre, der als Boca-Spieler einige Superclásicos erlebt hat und heute ein angesehener TV-Kommentator ist. Der Fundamentalismus in den Fanrivalitäten in Argentinien sucht weltweit seinesgleichen, mit oft als Folklore verklärten Auswüchsen, mit irrwitzigen Anekdoten wie jener vom Donnerstag, als die Polizei an der Bombonera aufmarschierte, weil Anhänger ohne Ticket damit drohten, das Stadion zu besetzen. Zwei Tage vor Anpfiff.

"Unser Fußball ist seit Jahren in einem maskierten Bürgerkrieg versunken, nun prallen wir mit der Realität zusammen", sagt Latorre, als spreche auch er von einem nahenden Krieg.

Übertrieben? Nicht ganz. Seit 2008 sind in Argentinien am Rande von Fußballspielen 98 Menschen gewaltsam ums Leben gekommen. Obwohl seit 2013 gar keine Fans mehr zu Auswärtsspielen ihrer Mannschaft mitreisen dürfen - es ist gesetzlich verboten. Dass es dennoch zu blutigen Schlachten kommt, hat mit Drogen, Waffen und Gewalt zu tun, auch seitens der Polizei. Macri, der als Boca-Präsident gern wegschaute, als die eigenen Fans wie Terrorbanden wüteten, regte dieser Tage an, das Verbot aufzuheben. Wohl auch, um der Welt das Bild eines Landes ohne größere Probleme zu vermitteln. Denn: Unmittelbar nach dem Rückspiel des Libertadores-Finales empfängt Argentinien ausländische Staats- und Regierungschefs wie Trump, Putin oder Merkel zum G-20-Gipfel. Und da soll es nicht möglich sein, ein zivilisiertes Bild beim Fußball abzugeben?

Von den eigenen Fans mit Knarren bedroht

Etwa zur gleichen Zeit, als Macri mit seinem Vorschlag dafür sorgte, dass die Argentinier sich vor Fassungslosigkeit an die Köpfe packten, fand ein anderes Derby statt, Rosario Central gegen Lionel Messis Stammverein Newell's Old Boys. Es wurde 300 Kilometer von Rosario entfernt ausgetragen. Hinter verschlossenen Türen. Bewacht von 100 Polizisten. Es gab 25 Festnahmen. "Ich will nicht die Verantwortung für einen Toten übernehmen", argumentierte Rivers Präsident Rodolfo D'Onofrio, als er zu Macris Idee befragt wurde. Ein Toter dürfte so ziemlich das Einzige sein, was es in bislang 374 Derbys nicht gegeben hat.

Den Namen "Clásico" hatte das Spiel schon weg, als es erstmals als Profiduell stattfand: 1931. Beide Vereine waren im gleichen, armen Hafenviertel geboren worden, in La Boca eben, am Ufer eines stinkenden Zuflusses zum Rio de la Plata, bevölkert von italienischen Einwanderern. River Plate wurde im Jahr 1901 gegründet, Boca Juniors vier Jahre später. Seither kreist Argentiniens Fußball nicht nur, aber vor allem um diese zwei Klubs, zu denen sich 70 Prozent der Argentinier bekennen, und deren Farben: River trug ursprünglich weiße Shirts und fixierte bei einem Spiel gegen ein Team, das ebenfalls in Weiß antrat, mit Stecknadeln die berühmte rote Schärpe ans Hemd, die der Klub bei einer Karnevalsband abgestaubt hatte und die er nie wieder abgenommen hat. Bocas Gründer wählten die Vereinsfarben Blau und Gold, weil sie verabredet hatten, sich von der Fahne des ersten Schiffes inspirieren zu lassen, das im Hafen einfuhr: Es kam aus Schweden.

Das erste Duell soll am 2. August 1908 stattgefunden haben; 1911 gab es bereits die erste Meldung über ein Zerwürfnis. Die Zeitung La Mañana berichtete über "einen schrecklichen Kampf zwischen 15 und 20 Damen", der dadurch ausgelöst wurde, dass eine "Viva el River" gerufen hatte "und damit die Reaktion ihrer Nachbarinnen erweckte, die mit einem 'Viva el Boca' reagierten". Später gingen die Wege der Klubs auseinander. Anfang der 1930er-Jahre kaufte River Plate für die damals irre Summe von 150 000 Pesos eine triumphale Mannschaft zusammen und hat seither den Spitznamen "Millonarios" weg - und zog wenige Jahre später ins noblere Núñez-Viertel um.

Auch Attacken mit Pfeffergas gab es schon

1942 wurde ein weiterer Mythos geboren: "La Máquina", die Maschine Rivers, mit einer Sturmreihe, die sie heute noch auswendig aufsagen können, auch weil sie im Stadion von Boca Juniors die argentinische Meisterschaft gewann: Muñoz, Moreno, Pedernera, Labruna, Loustau. Sie war so gut, dass eine andere River- Legende, Alfredo Di Stéfano, der bei Real Madrid der erste Weltstar des Fußballs werden sollte, später berichtete, er habe an keinen der fünf herangereicht. Danach: Namen, die sich aufsagen lassen wie ein Gedicht. Fillol, Passarella, Luque, Kempes, Tarantini, Francéscoli, Ortega, Crespo. Und bei Boca: Varallo, Batistuta, Riquelme, Palermo, der heutige Trainer Barros Schelotto, der noch immer aktive Stürmer Carlos Tevez. Oder Óscar Ruggeri, Weltmeister von 1986, der ebenfalls Geschichten erzählen kann von Boca und River.

In seinem Fall: wie sie mit Knarren bedroht wurden, von den eigenen Fans. Oder dass Boca-Fans nicht nur sein Auto, sondern auch sein Haus anzündeten, als er 1985 zu River wechselte, die Mutter saß noch drin, als die Feuerwehr kam. Ruggeri weiß auch zu erzählen, dass sie in der Bombonera nicht nur mit Papierschnipseln werfen, die auf den Fotos so herrlich aussehen, sondern auch mit Plastiktüten, die sie vorher vollgepinkelt haben. Auf der Tribüne, nicht in der Stehkurve. Den bislang letzten seiner drei Libertadores-Titel holte River 2015, nach einem Achtelfinalduell gegen Boca, das am Grünen Tisch entschieden wurde: Die Fans von Boca, dem sechsmaligen Libertadores-Sieger, hatten die Spieler von River Plate nach der Halbzeitpause mit Pfeffergas attackiert, das Spiel wurde abgebrochen. "Bambino" Viera, der Trainer bei River und bei Boca war - unter anderem bei Maradonas letztem Spiel als Profi für Boca 1997, das ebenfalls ein Superclásico war -, sagt: "Wir Argentinier sind sehr leidenschaftlich."

Ob er das Spiel gerne spielen würde? "Natürlich", sagt Roberto Mouzo, mit 426 Pflichtspielen der Mann, der das Trikot von Boca am häufigsten getragen hat und 29 Superclásicos erlebte. Unter anderem einen 3:0-Sieg mit Maradona ("Das beste Spiel, das er je gespielt hat"), sowie ein nationales Meisterschaftsfinale im Stadion von River, 1976. Latorre denkt da schon länger nach. Denn der Irrsinn, der sich gerade vor seinen Augen entfaltet, ist auch Stress für die Spieler - von dem Latorre nicht weiß, ob er ihn sich antun würde.

22 Männer stehen an einer Wegscheide, die entweder zum ewigen Ruhm führt. Oder zumindest ins totale Chaos, direkt und unweigerlich.

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