Digitalisierung der Schulen:Nachdenken first

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Keine Verweigerung, aber auch keine unkritische Übernahme: Schulleiter Wolfgang Schimpf fordert eine Digitalisierung mit Augenmaß.

(Foto: imago/epd)

Politik und Wirtschaft drängen auf die Digitalisierung der Schulen. Doch nutzt die der Bildung überhaupt? Plädoyer für eine digitalkritische Pädagogik.

Gastbeitrag von Wolfgang Schimpf

"Computer sind nutzlos, sie können nur Fragen beantworten."

Sicher ohne Ahnung vom fernen Land Digitalien hat Picasso das 1964 gesagt. Und doch könnte sein Satz auch heute, wo uns blühende digitale Landschaften versprochen werden, als kluger Einspruch verstanden werden in der anschwellenden Diskussion über Ziel, Umfang und Gestaltung digitaler Transformation.

Über den Autor

Wolfgang Schimpf ist Schulleiter des Max-Planck-Gymnasiums in Göttingen und Vorsitzender der niedersächsischen Direktorenvereinigung.

Auf der einen Seite erleben wir die unverhohlen euphorische Erwartung eines überfälligen Digitalisierungsrucks. Eines Rucks, wie ihn sich in der Bildung viele vom fünf Milliarden Euro schweren "Digitalpakt Schule" erhoffen, der nach scheinbar endlosen Verhandlungen nun doch noch kommen soll. Auf der anderen Seite hört man meist leise intonierte Skepsis. Sie mahnt zur Vorsicht und weist darauf hin, dass man gerade im Bildungsbereich kaum begonnen habe, über Nutzen und Nachteil eines solchen Paradigmenwechsels nachzudenken. Ausbildung etwa könne von der Digitalisierung profitieren, Bildung aber bleibe doch vor allem dem Selbstdenken verpflichtet.

Sicher ist, dass wir uns mitten in einer gesellschaftlichen Umgestaltung größten Ausmaßes befinden. Zugleich haben die meisten nicht einmal im Ansatz begriffen, was auf sie zukommt. Der Slogan von FDP-Chef Christian Lindner zur letzten Bundestagswahl: "Digitalisierung first - Bedenken second" bringt das Credo unserer ökonomischen Nomenklatura auf eine prägnante Formel: Die Macht des Faktischen vereinigt unsere Gesellschaft in vorauseilendem Gehorsam und schwört sie mit geradezu mythischer Sehnsucht auf die Verheißungen der schönen neuen Welt ein.

Eine solche Haltung, die sagt: Medizin first, Nebenwirkungen second, kann nicht die meine sein. Ich komme aus der Schule, der gesellschaftlichen Institution, in der die Weichen für die Zukunft der nächsten Generation gestellt werden. Und dieser Weichensteller kann und darf sich nicht damit herausreden, dass er nicht wisse, wohin die Züge fahren, die er dirigiert. Mich interessiert, anders gesprochen, der Beipackzettel der uns verordneten digitalen Therapie.

Beispiele, die nachdenklich machen, gibt es viele. Man denke an den Bostoner Unternehmer Ben Waber, der in Firmen sekundengenau registrieren lässt, wie lange und in welchem Ton die Angestellten miteinander sprechen, um ihre Gefühlslage und Einstellung zur Firma zu ermitteln. Man denke an Amazons charmante Alexa, die in immer mehr Wohn- oder Kinderzimmer einzieht, um Musik zu spielen und Fragen aller Art zu beantworten. Nur eins kann sie nicht: selbst kluge Fragen stellen.

Diese Fälle stehen für eine Entwicklung, die uns in zunehmender Geschwindigkeit in eine völlig neue Gesellschaft, ja neue Welt führt. Folgekosten werden nicht veranschlagt, weil wir sie schon immer nebenbei mit unseren privaten Daten bezahlen. Und das alles lassen wir in stillschweigendem Einverständnis zu. Als ich vor Kurzem meinen Whatsapp-Kontakten ankündigte, dass ich meinen Account löschen würde, um mich wenigstens an einer Stelle dem Zugriff der Big-Data-Kontrolleure zu verweigern, gab es fast kein Verständnis, geschweige denn Nachfolge: Der soziale Marktplatz mit seinen vielen Gadget-Buden gehöre doch einfach dazu.

Die drei Hauptprobleme der Digitalisierung des Unterrichts

Mit Kant gesprochen: Aus Bequemlichkeit sind wir im Begriff, unsere durch Aufklärung gewonnene Autonomie gedankenlos preiszugeben. Nicht umsonst warnte Stephen Hawking eindringlich vor der Dominanz der künstlichen Intelligenz (KI): "Unsere Zukunft ist ein Wettlauf zwischen der wachsenden Macht unserer Technologien und der Weisheit, mit der wir davon Gebrauch machen. Wir sollten sicherstellen, dass die Weisheit gewinnt."

Was also ist zu tun?

Gegenwehr kann, soweit ich sehe, nur aus der Schule kommen. In der Tradition gesellschaftskritischer Pädagogik geht es nun um eine digitalkritische Pädagogik. Sie aber hat keine Lobby!

Ich spreche hier bewusst nicht von logistischen Voraussetzungen, von Glasfaserinfrastruktur, Netzwerkpotenzialen und Systemadministration durch professionelle Assistenz. Das ist machbar. Viel schwieriger ist die Umsetzung in unterrichtliche Praxis. Sie hat gerade erst begonnen, gänzlich dezentral und ohne jeden Masterplan. Wie an meiner Schule. Lehrer der Fächer Informatik, Philosophie und Politik finden sich im Unbehagen an einer von oben verordneten Entwicklung zusammen, um ein schuleigenes Curriculum zu basteln. So dezentral aber darf dieser Ansatz nicht bleiben. Meiner Einschätzung nach geht es vor allem um drei Hauptprobleme, die zentraler politischer Steuerung bedürfen.

Das Erste ist der sogenannte didaktische Mehrwert. Wir brauchen kein neues Medium, wenn es nicht mehr kann als das alte. Doch die derzeitigen Programme und Lernapps sind von sehr unterschiedlicher Qualität. Es ist überfällig, dass eine Gruppe von Experten, die zugleich Fachleute für Unterricht sein müssen, eine Art Qualitätssiegel erarbeitet - in offiziellem Auftrag der Kultusministerien. Bewährte Programme müssten dann im Lehrplan verankert werden, ein zentraler Schritt für die Neuausrichtung der Unterrichtspraxis.

Das Zweite ist die neue Rolle des Lehrers. Bisher existieren nur wenige Studien über den Nutzen der neuen medialen Technologien im Unterricht. Eines aber scheint klar zu sein: Stoff und Methoden verändern sich, wenn Lernen in Interaktion mit intelligenten Maschinen stattfindet. Vielfältige Möglichkeiten zu Differenzierung und Individualisierung tun sich auf, die man klug nutzen müsste. Lehrkräfte jedenfalls werden sich häufiger als bisher als Moderator, Anreger und Berater verstehen. Doch dürfen sie dabei nicht vergessen, dass wir sie vor allem als Helfer für die Persönlichkeitsentwicklung brauchen. Das Einmaleins oder neue Lateinvokabeln, Lernen also, das vor allem der Wiederholung bedarf, werden Formen künstlicher Intelligenz in der Tat bald besser vermitteln können. Das anspruchsvolle Gespräch über die Faustlektüre in der Oberstufe aber kann der beste Computer nicht ersetzen.

Schule hat drittens in einer Gesellschaft, die autonom bleiben will, mehr als zuvor die Aufgabe, für Aufklärung zu sorgen. Das ist das Wichtigste! "Bewusstsein ist der erste Schritt zur Freiheit", sagt der Internetpionier Jaron Lanier. Das Bewusstmachen dessen, was da einsickernd passiert - die Invasion des Digitalen -, müsste ein vordringliches Lernziel werden. Sie sichtbar zu machen wäre Grundanliegen eines Pflichtfachs allgemeinbildender Informatik in allen Schulformen. Nur wenn ich weiß, wie Smartphones, Internet und algorithmische Steuerung funktionieren, kann ich ihre Folgen einschätzen. Dem Pflichtfach Informatik sollte am Gymnasium ein Pflichtfach Philosophie beispringen, wo die grundlegenden Fragen - Was kann ich wissen? Wie soll ich handeln? Was ist schön? - unter den Bedingungen digitaler Transformation neu zu beantworten wären. Hier wäre auch der Ort, um das Wichtigste zu zeigen: den letztlich totalitären Anspruch digitaler Erfassung.

Keine Verweigerung, aber auch keine unkritische Übernahme wünsche ich mir. Sondern eine Digitalisierung mit Augenmaß: Einerseits sollten wir uns ihrer teilweise großartigen Möglichkeiten bedienen. Andererseits müssen wir die Schüler so stark machen, dass sie auch Nein sagen können: Nagelprobe ihrer Autonomie. Denn es geht um viel mehr als die Frage nach optimalen Unterrichtskonzepten. Erfülltes Leben resultiert nicht aus dem digitalen Entweder-Oder, es verdankt sich der Dynamik eines Sowohl-als-Auch. Sein Paradigma ist das autonome Individuum - das Gegenbild zu dem, was die digitale Transformation uns als Errungenschaft andient. Es wäre Zeit, dass auch die Entscheider unserer Republik dies erkennen.

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