Hartz IV:Wenn das letzte Geld genommen wird

Obdachlose Familie in München 2011

Leben am Existenzminimum: Kürzungen können Abwärtsspiralen in Gang setzen.

(Foto: Catherina Hess)
  • Von diesem Dienstag an verhandelt das Bundesverfassungsgericht über die umstrittenen Hartz-IV-Sanktionen.
  • Bereits 2010 entschieden die Richter, dass das Existenzminimum eine Frage der Menschenwürde ist.
  • Dennoch gilt es als unwahrscheinlich, dass Karlsruhe das Prinzip der Sanktionierung komplett untersagt.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Normalerweise meidet das Bundesverfassungsgericht die Pfade der aktuellen Politik, am Dienstag wird das anders sein. Dann verhandelt der Erste Senat unter dem neuen Vorsitzenden Stephan Harbarth über die Hartz-IV-Sanktionen. Also jene harschen Leistungskürzungen, mit denen Arbeitslose zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt - ja was eigentlich? Motiviert werden? Gedrängt? Oder genötigt? Solche Gedanken plagen derzeit die SPD, Partei der Hartz-IV-Erbsünde. Bereitet das Arbeitslosengeld zwei, wie es richtig heißt, wirklich den Weg in die Arbeit - oder doch nur den in die Armut?

Die Sanktionen, das sind die Stufen einer Eskalationsleiter. Es beginnt mit zehn Prozent Abzug vom Regelsatz für denjenigen, der Termine nicht einhält, etwa beim Jobcenter. Das ist die mit Abstand häufigste Maßnahme, 2017 galten 740 000 der insgesamt 950 000 Sanktionen Meldeversäumnissen. 30 Prozent Kürzung muss hinnehmen, wer eine zumutbare Arbeit ablehnt oder sich nicht an seine "Eingliederungsvereinbarung" hält.

Wiederholungstäter bekommen 60 Prozent abgezogen, bei weiteren Verstößen droht die völlige Streichung, Sperrzeit: drei Monate. Dann bleibt nur der Antrag auf Einkaufsgutscheine. Das "Fördern" hat also einen grimmigen Gefährten, das "Fordern". Nikolaus und Knecht Ruprecht, wenn man so will.

"Die Menschenwürdegarantie zwingt den Staat nicht, selbstbestimmt handelnde Menschen vor sich selbst zu schützen"

Den Menschen wird also von dem Wenigen, das sie haben, viel abgezogen. Geht das? Das Existenzminimum ist eine Frage der Menschenwürde, hat das Verfassungsgericht im Grundsatzurteil von 2010 entschieden: "Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt."

Das Sozialgericht Gotha hat deshalb die Karlsruher Richter angerufen, es ging um einen Arbeitslosen, dem vom damaligen Regelsatz (391 Euro) 117 Euro abgezogen wurden, weil er einen Job als Lagerarbeiter abgelehnt hatte; er wollte lieber in den Verkauf. Zentrale These des Vorlagebeschlusses aus Gotha: Wenn Hartz IV das Minimum dessen ist, was man für ein menschenwürdiges Leben benötigt - dann darf ein Sozialstaat diese Grenze nicht unterschreiten.

Hat Karlsruhe die Antwort auf die Frage nach der Zulässigkeit der Sanktionen 2010 also längst gegeben? Muss sie zwingend Nein lauten, jedenfalls dann, wenn der Regelsatz an der Untergrenze entlang schrammt? 2014 entschied das Gericht, der neu gestaltete Regelsatz sei "noch" mit dem Grundgesetz vereinbar; das klang nicht so, als gäbe es noch Luft nach unten.

Dass Karlsruhe das Prinzip der Sanktionierung komplett untersagt, ist dennoch unwahrscheinlich. Schon richtig, das Existenzminimum ist "dem Grunde nach unverfügbar", heißt es im Urteil von 2010 - es bedürfe aber der Konkretisierung durch den Gesetzgeber. Und der hat sich eben für einen "aktivierenden Sozialstaat" entschieden, der nicht einfach nur Geld verteilt, sondern Leistungen an die Mitwirkung des Empfängers knüpft.

Klares Ziel: Rückkehr aus der Hilfebedürftigkeit ins Arbeitsleben - das genaue Gegenstück zum bedingungslosen Grundeinkommen. Eine Frage der Eigenverantwortung, formuliert die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme: "Die Menschenwürdegarantie zwingt den Staat nicht, selbstbestimmt handelnde Menschen vor sich selbst zu schützen."

"Hab gesagt, wenn ihr mich ganz sperrt, dann brauch ich auch zu keinem Termin zu kommen"

Gewonnen hat die Regierung damit aber noch lange nicht. Sicher, niemand muss vor sich selbst geschützt werden. Aber der Staat schuldet seinen Bürgern Schutz vor überharten oder sinnlosen Maßnahmen. Jedenfalls lässt sich aus der Verhandlungsgliederung entnehmen, dass das Gericht zur Praxis der Jobcenter bohrende Fragen stellen wird: In welchen Fällen verfehlen die Abschläge den Zweck, Betroffene zu motivieren? Sind die Regeln zu starr, um auf Härtefälle reagieren zu können? Und dann die Frage nach dem Weg in die Armut: "Gibt es Leistungsberechtigte, die über Jahre hinweg mit geminderten Regelbedarfsleistungen leben?" Es geht also, Eigenverantwortung hin oder her, sehr wohl darum, was Hartz IV mit den Menschen macht.

Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat mehrere Studien zusammengestellt, die nicht wirklich nach Motivation zur Selbstverantwortung klingen; eher ist von Lähmung und Rückzug aus dem sozialen Umfeld die Rede. Roland Rosenow von der Selbsthilfeinitiative Tacheles berichtet von einem Mann, der aus Scham seine Alkoholabhängigkeit nicht offenbaren wollte und sich deshalb Sanktion um Sanktion einfing - bis er fast in der Obdachlosigkeit gelandet wäre. Kürzungen können Abwärtsspiralen in Gang setzen. Und zwar bei Menschen, die schlicht überfordert sind von der Hilfebürokratie.

Besonders umstritten ist der Umgang mit jungen Erwachsenen. Die unter 25-Jährigen werden nicht nur ungleich häufiger bestraft, für sie sieht das Gesetz zudem deutlich härtere Sanktionen vor - schon die erste Pflichtverletzung kann dazu führen, dass bis auf Miete und Heizung nichts mehr gezahlt wird. Dahinter steckt die löbliche Absicht, gerade die jungen Leute möglichst schnell in den Arbeitsmarkt zu bugsieren, damit die gar nicht erst auf die abschüssige Bahn der Arbeitslosigkeit geraten. Bei einem Teil scheint das auch zu funktionieren, wie eine Studie des Instituts für Arbeitsmarktforschung (IAB) ergeben hat - die Aufnahme einer Beschäftigung beschleunigt sich.

Das dürfte freilich vor allem für die gelten, die ohnehin besser vermittelbar sind. Auf andere haben drastische Kürzungen mitunter verheerende Auswirkungen. Manchen Betroffenen wird der Strom abgestellt, weil sie die Rechnungen nicht mehr bezahlen können, andere häufen Schulden an oder leben auf Kosten der Familie, wie es in einer weitere IAB-Untersuchung heißt. Danach haben einige sogar die Wohnung verloren, mussten ins Obdachlosenheim.

Die Folgen solcher Totalsanktionen: Die jungen Menschen werden entweder in prekäre Jobs gedrängt, oder sie brechen den Kontakt zum Jobcenter ganz ab, das gilt für sieben Prozent der sanktionierten Männer unter 25. Viele halten sich mit Schwarzarbeit über Wasser. Ein Interviewter hat dies in einer Studie so ausgedrückt: "Hab gesagt, wenn ihr mich komplett sperrt, dann brauch ich auch zu keinem Termin zu kommen. Weil, ich hab jetzt hier keine Pflichten mehr."

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