Städtebau:Wie Leben sein könnte

HEIDE & VON BECKERATH

Konzept sticht Höchstpreis: Das Grundstück für das Integrative Bauprojekt am ehemaligen Blumengroßmarkt (IBeB) in Kreuzberg wurde im Konzeptverfahren vergeben.

(Foto: Andrew Alberts)
  • In Berlin-Kreuzberg ist integratives Wohnprojekt entstanden.
  • Es verschränkt Wohnen und Arbeit und hat große und kleine Wohnungen, die sich flexibel kombinieren lassen.
  • Das Projekt war nur möglich, weil das Grundstück für das Gebäude im Konzeptverfahren vergeben wurde.

Von Laura Weissmüller

Vierundsechzig Mal. Vielleicht sagt diese Zahl schon alles. So oft haben sich die zukünftigen Bewohner des Hauses am ehemaligen Blumengroßmarkt in Berlin-Kreuzberg zwischen 2013 und 2018 getroffen, um zu besprechen, wie sie sich ihr gemeinsames Zuhause vorstellen. Nicht immer waren die Architekten dabei, aber jedes Mal die Genossenschaft, die mit den zwei Architekturbüros - ifau und Heide & von Beckerath - das Projekt entwickelt hat, sowie ein Projektsteuerer. 64 Mal innerhalb von fünf Jahren, das macht mehr als ein Treffen pro Monat.

Was dabei herauskam, wenn alle mitreden dürfen? Eines der faszinierendsten Häuser seit Langem. Es liefert den Beweis, dass es eben doch geht: So zu bauen, wie es unserer Gesellschaft heute würdig ist. Mit so vielen Grundrissen wie Parteien. Mit der Verschränkung von Wohnen und Arbeiten. Mit Gewerbe und Ateliers im Erdgeschoss, damit das Haus so öffentlich ist wie der Ort, wo es steht. Mit großen und kleinen Wohnungen, die sich kombinieren lassen, damit unsere unsteten Biografien darin Platz finden. Mit Gemeinschaftsflächen, die sich an den schönsten Orten des Hauses befinden. Mit Raum für soziale Träger, für Mieter mit weniger Geld, aber vielen Ideen, und für Eigentümer, deren Interesse nicht an der eigenen Wohnungstür aufhört.

Es ist ein Haus wie ein Sitzriese, je näher man ihm kommt, desto mehr sieht man, wie viel in ihm steckt. Es ist: "ein Haus wie ein Stück Stadt", sagt Susanne Heiß, Architektin im Berliner Büro ifau.

Und damit das Gegenteil von dem, was allerorts in Deutschland gerade entsteht. Wer durch die Neubaugebiete dieses Landes läuft, der kann nur staunen oder wütend werden. Mit wenigen Ausnahmen werden da im Akkord dumpfe Kästen aufgestellt, so als ginge es nicht um Menschen, die darin wohnen und arbeiten werden.

Ja, es stimmt, die Wohnungskrise in Deutschland ist gewaltig. Aktuell fehlen zwei Millionen bezahlbare Wohnungen. Doch was als Antwort auf diese Not gerade hochgezogen wird, ist eines der reichsten Länder auf dieser Welt nicht würdig. Schnelligkeit allein sollte kein Kriterium sein für etwas, das jahrzehntelang steht. Im Gegenteil: Das Mantra "bauen, bauen, bauen, und zwar schnell" pflastert nur unsere Städte mit seelenlosen Wohn- und Bürokisten zu, versagt einer Gesellschaft die Chance, sich in ihren Häusern wiederzufinden und nützt ausschließlich einer kleinen Klientel von Bauinvestoren, deren Interesse an einem Gebäude sich auf die zu erwartende Rendite beschränkt.

HEIDE & VON BECKERATH

Selbst ist der Künstler: Die zweigeschossigen Ateliers im Erdgeschoss wurden als Rohlinge konzipiert, die die Nutzer nach ihren Wünschen ausbauen konnten.

(Foto: Andrew Alberts)

Bei dem integrativen Bauprojekt am ehemaligen Blumengroßmarkt (IBeB), gleich gegenüber vom Jüdischen Museum, ist das anders. Das hat viel mit den Menschen zu tun, die dort nun wohnen und arbeiten, aber auch mit den Architekten, die versucht haben, den ganzen Wahnwitz genannt Stadt in ein Haus zu packen. Selten hat man ein derart sparsames und gleichzeitig luxuriöses Gebäude gesehen. Sparsam, weil die verwendeten Materialien und Standards zwar sehr bewusst gewählt, aber alle einfach sind. Gerade in den Ateliers und Gewerbeeinheiten im Erdgeschoss bekamen die Benutzer nur Rohlinge mit hohen Decken und unverputzten Wänden, die sie nach ihren Wünschen ausbauen durften. Luxuriös, weil in die Orte für die Gemeinschaft so viel Zeit, Aufwand und Geld gesteckt wurde.

Bestes Beispiel dafür ist der Erschließungsgang im ersten Stock. Wobei der Begriff Erschließungsgang viel zu nüchtern klingt, dafür, dass er das Haus fortwährend mit Leben durchpulst. Diese rue intérieur ist sehr breit, mit Lichthöfen, die sie mit Tageslicht versorgen, Bänken, wo man sich gerne hinsetzt, und einer Länge, die zum Skateboardfahren animiert.

Wer die Architekturgeschichte kennt, wird an Le Corbusier und seine Unité denken. Dort wie hier haben die Architekten in genialer Bastelarbeit die unterschiedlichsten Wohnungstypen um den Gang geschlungen. Man fühlt sich aber auch an japanische Baumeister erinnert, die öffentliche, halböffentliche und private Räume derart kunstvoll ineinanderweben, dass eine gebaute Durchlässigkeit entsteht.

"Wie kann man das ganze ,Berlinwissen' in ein Haus übertragen?", hat sich die Architektin Verena von Beckerath gefragt. Vieles, was man andernorts erst erfinden muss, ist an der Spree längst Teil der Realität. Wohnen und Arbeiten finden hier oft hinter einer Tür statt. Genauso wie WGs hier nicht nur etwas für Studenten sind, sondern auch für Alte, Alleinerziehende, Singles. Die Architekten haben in ihrem Entwurf versucht, das Beste aus den Großsiedlungen der Siebziger zu übernehmen und an die Gegenwart anzupassen. Das gelang nicht zuletzt deswegen so gut, weil sie den Bewohnern genügend Raum gelassen haben, sich in den Entwurf einzuschreiben. Wie das ablief, vergleicht Dirk Eicken, Vorstand der Selbstbaugenossenschaft Berlin eG, mit der Arbeit eines Parlaments: "ohne Hilfe von außen, als Beispiel einer Bürgergesellschaft".

Als "kleine Utopie, wie das Leben sein könnte", beschreibt Verena von Beckerath das Projekt, das nicht nur für einen der wichtigsten Architekturpreise des Landes, den Preis des Deutschen Architekturmuseums, nominiert ist, sondern auch auf der Shortlist des Mies van der Rohe Award steht. Es war nur möglich, weil das Grundstück nach einem Konzeptverfahren vergeben wurde. Noch so ein staubtrockenes Wort, worunter sich etwas Quicklebendiges verbirgt - und die politische Verantwortung. Denn lange Zeit war der Verkauf öffentlicher Grundstücke so simpel wie fatal. Wer am meisten zahlte, bekam den Boden, so als handelte es sich dabei bloß um eine Ware wie jede andere. Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass bei einem solchen Höchstpreisverfahren nur entstehen kann, was die höchste Rendite verspricht. Das sind teure Eigentums- und Mietwohnungen sowie anonymer Gewerbebau, also genau das, was heute unsere Neubauviertel narkotisiert. Nur Investoren, die so etwas bauen, können die aktuell horrenden Grundstückspreise zahlen. Genossenschaften, kleine Baugruppen oder soziale Träger haben keine Chance.

Beim Konzeptverfahren dagegen bekommt derjenige das Grundstück, der für den Ort das beste Konzept entwickelt. Das ist zeitaufwendiger, mühsamer für die Behörden und auf den ersten Blick weniger lukrativ. Doch wer Neubauviertel haben will, die nicht aus dem Hochglanzportfolio eines Investors stammen, sondern maßgeschneidert für Menschen und Standort werden, hat keine Wahl. Der Profitgedanke hat viel zu lange Stadtplanung betrieben, jetzt ist die Gesellschaft dran.

Städte wie Tübingen, München oder Hamburg vergeben ihre Grundstücke schon länger im Konzeptverfahren, in Berlin war die Vergabe der drei Grundstücke für das Kunst- und Kreativquartier Premiere. Florian Schmidt, damals Aktivist, heute Baustadtrat des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, hat das federführend mitangestoßen. Die Kriterien waren klug gewählt. Denn im Vergleich zu anderen Konzeptverfahren, die starr zu viele Vorgaben machen und teure Vorplanungen verlangen, gab die Ausschreibung nur vor, dass die Projekte Bezug auf das Kreativquartier nehmen, bezahlbaren Wohnraum auch für soziale Träger schaffen und sich im Bezirk verankern sollten. Allen drei Projekten ist das gelungen. Das Metropolenhaus gleich gegenüber dem IBeB kombiniert Gewerbe, Wohneinheiten und kleinteilige Büroeinheiten. Frizz 23 beweist, dass auch ein Gewerbebau sensibel auf den Ort eingehen kann.

"Wir wollten zeigen, dass man Stadt anders bauen kann", sagt die Architektin Britta Jürgens, die mit Matthew Griffin Frizz 23 entworfen und selbst finanziert hat. Guter Gewerbebau ist heute noch schwerer zu finanzieren als gute Wohnungen. Auch die Banken verstehen nur Klotzen.

Apropos finanzieren: Die Eigentümer im IBeB haben die Mieten von 9,50 Euro pro Quadratmeter für die Genossenschaftler mitfinanziert, indem sie 310 Euro mehr für den Quadratmeter zahlten. "Rucksackmodell" nennt das die Architektin Heiß. Man könnte auch vom Verantwortungsgefühl einer Stadtgesellschaft sprechen.

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