Reden wir über:Störungen in der Entwicklung

Sabine Kaiser-Röhrich, Poing
(Foto: Privat)

Sabine Kaiser-Röhrich spricht Eltern betroffener Kinder Mut zu

Interview von Johanna Feckl, Poing

Als promovierte Chemikerin und Heilpraktikerin für Psychotherapie arbeitet Sabine Kaiser-Röhrich auf dem Gebiet der Lern- und Gedächtnisstörungen. Die 52-jährige Poingerin spricht über ihr Buch "Wenn das Gehirn meines Kindes anders tickt" zum Thema ADHS, Legasthenie und Dyskalkulie bei Kindern.

SZ: Frau Kaiser-Röhrich, Sie nennen Ihr Buch einen praktischen Leitfaden und Mutmacher für betroffene Eltern - weil Mutlosigkeit ein großes Problem ist?

Sabine Kaiser-Röhrich: Ja. In der Schule bekommen die Kinder oft wenig Verständnis, in einer Klasse mit 30 Schülern gehen sie unter. Hinzu kommt, dass sie manchmal bereits mehrere Therapien hinter sich haben - ohne Erfolg. Dadurch werden sie traurig oder wütend. Die Eltern sind verunsichert und verzweifelt, weil sie nicht wissen, wie sie ihrem Kind helfen können.

Woran kann es liegen, dass bei Therapien der erhoffte Erfolg ausbleibt?

Viele kommen mit einer ADHS-Vordiagnose. In acht von zehn Fällen stimmt das aber nicht. Bei den Symptomen kann vieles im Argen liegen: Schlafstörungen, Depressionen oder Mobbing und Schulangst. Durch standardisierte Tests kann so etwas untergehen. Dann wird einfach Ritalin verschrieben - und das passt oft nicht zusammen.

Das betonen Sie auch in Ihrem Buch: Man solle den ganzen Menschen betrachten und nach individuellen Lösungen suchen.

Man kann nicht sagen: Du hast ADHS und dann läuft alles immer gleich ab. Es gibt viele Untertypen, die unterschiedlich behandelt werden müssen. Wichtig ist auch zu sehen: Wird das Kind in der Schule gehänselt? Wie handelt der Lehrer? Wie ist der Lerndruck der Eltern? Vor allem kurz vor dem Übertritt an eine weiterführende Schule ist der oft sehr groß - das Kind soll unbedingt aufs Gymnasium, manche sind dafür aber nicht geeignet. Es ist wichtig, immer das ganze System zu betrachten: Das Kind, die Eltern, die weitere Familie, Freunde, aber auch das Handy- und Internetverhalten spielt eine wichtige Rolle.

In einem Kapitel schreiben Sie, dass Legasthenie und Dyskalkulie keine Schwächen, Störungen, Krankheiten oder gar Behinderungen sind. Sondern?

Offiziell wird beides schon als Störung klassifiziert. Ich möchte aber davon weggehen, Legasthenie und Dyskalkulie als Manko zu bezeichnen. Beides kann man beheben, zwar nicht komplett, aber so, dass das Kind zufriedener ist. Das Kind kann davon abgesehen ganz pfiffig sein - in unserem Schulsystem werden aber meist nur Schwächen herausgestellt. Das finde ich nicht gut.

Wie sieht es mit ADHS und Autismus aus?

Beides sind, ebenso wie Legasthenie und Dyskalkulie, Entwicklungsstörungen. Keine Krankheiten. Es ist eine Andersartigkeit im Gehirn, aber den Kindern und ihren Familien kann man helfen.

Neben ihrem beruflichen Zugang zum Thema haben Sie auch einen privaten: Ihr Adoptivsohn ist selbst Autist. Waren Ihre persönlichen Erfahrungen in diesem Rahmen auch Motivation für das Buch?

Ja, sehr stark sogar. Unser Sohn hat eine Form von Autismus, die sich High-Functioning Autismus nennt: Er hat sich im Kindergarten mit Gruppen schwer getan, für ihn waren das zu viele Sinnesreize durch die anderen Kindern, die Lautstärke hat ihn überfordert. Wir wussten lange nicht, was er hat. Es wurden alle möglichen Diagnosen gestellt - nur die richtige erst recht spät. Von den anderen Kindern wurde er schnell abgestempelt und auch gemobbt.

Haben Sie einen Tipp, um diese schlimmen Erfahrungen zu vermeiden?

Zum einen ist es wichtig, zu einem Facharzt oder Spezialisten zu gehen, also jemandem, der sich mit dem Thema auskennt - wie auch ich als Heilpraktikerin für Psychotherapie. Man muss zu den Ursachen vordringen und darf sich nicht nur auf die Symptome beschränken. Erst neulich etwa war ein Kind bei mir, das durch Borreliose Aufmerksamkeitsschwierigkeiten hatte - und nicht durch ADHS. Und es ist auch wichtig, dass schon Lehramtsstudenten aufgeklärt werden: Wie geht man mit betroffenen Kindern um? Wie erkennt man eine Entwicklungsstörung? Da gibt es im Moment ein tolles Projekt von der LMU München, "Heureka!", mit genau diesem Ziel.

Sabine Kaiser-Röhrich: "Wenn das Gehirn meines Kindes anders tickt", 2019, Sorriso Verlag in Radolfzell, Preis als Taschenbuch je 16,95 Euro.

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