Frauenstreik in der Schweiz:"Ab 15.24 Uhr arbeiten Frauen gratis"

Frauenstreik in der Schweiz: Archivbild aufgenommen im Januar 2018 in Las Vegas: Auch beim Schweizer Frauenstreik erwarten die Organisatorinnen eine hohe Beteiligung.

Archivbild aufgenommen im Januar 2018 in Las Vegas: Auch beim Schweizer Frauenstreik erwarten die Organisatorinnen eine hohe Beteiligung.

(Foto: AP)

Am Freitag gehen in der Schweiz die Frauen für Gleichberechtigung auf die Straße. Organisatorin Corinne Schärer erklärt, warum sie es traditionell schwer haben und warum Männer nur in den hinteren Reihen protestieren sollen.

Interview von Zita Zengerling

"Mann und Frau sind gleichberechtigt." So steht es seit dem 14. Juni 1981 in der Schweizer Verfassung. Weil das zehn Jahre später noch nicht vollständig umgesetzt war, demonstrierten hunderttausende Schweizerinnen. Der Frauenstreik von 1991 ging in die Geschichte ein. Es war die größte politische Mobilisierung in der Schweiz seit dem Landesstreik von 1918. Die Proteste erwirkten ein Gleichstellungsgesetz. Und trotzdem: Am 14. Juni 2019 streiken die Schweizerinnen erneut.

Corinne Schärer protestierte 1991 noch als Studentin. Mittlerweile ist sie Zentralsekretärin der Schweizer Gewerkschaft Unia und hat den zweiten Schweizer Frauenstreik mitorganisiert, der am Freitag stattfindet. Wieder werden tausende Teilnehmerinnen erwartet, wieder demonstrieren sie für mehr Gleichberechtigung.

SZ: Sie waren schon am ersten Frauenstreik beteiligt. 28 Jahre später streiken Sie erneut - mit denselben Forderungen. Glauben Sie, dieses Mal bringt es etwas?

Corinne Schärer: Der Streik von 1991 hat zwar viel gebracht, zum Beispiel endlich eine Mutterschaftsversicherung, aber seine zentrale Forderung, die Gleichstellung von Mann und Frau in allen Lebensbereichen, ist noch immer nicht erreicht.

Was fehlt denn noch?

Es geht mit der Gleichstellung einfach nicht voran in der Schweiz. Obwohl die Gleichberechtigung seit 1981 in der Verfassung festgeschrieben ist, wurde sie einfach nicht verwirklicht. Wir fordern Lohngleichheit und höhere Frauenlöhne. Ob in der Pflege, beim Reinigungspersonal oder in der Uhrenindustrie, die Bezahlung in den typischen Frauenberufen ist niedrig. Wir fordern die Anerkennung der Arbeit der Frauen und zwar die bezahlte und unbezahlte Arbeit, also auch innerhalb der Familie. Außerdem wollen wir eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf erreichen. Das ist in der Schweiz ein Riesenproblem. Und wir fordern: Schluss mit dem täglichen Sexismus, der sexuellen Belästigung und Gewalt an Frauen.

Inland - Geschaeftsleitung UNIA; Corinne Schärer Unia

Corinne Schärer ist Zentralsekretärin der Schweizer Gewerkschaft Unia. Die 55-Jährige organisiert mit dem Schweizer Gewerkschaftsbund den Frauenstreik.

(Foto: Manu Friederich)

Ist die Schweiz für Frauenrechte ein besonders schwieriger Ort? Das Frauenwahlrecht wurde schließlich auch erst 1971 eingeführt.

Bis 1988 galt sogar noch, dass der Mann über die Arbeit seiner Ehefrau entscheiden durfte. Bis heute hält sich in der Schweiz hartnäckig ein konservatives Rollenbild, die Idee, dass die Frauen für den häuslichen Bereich und die Familienarbeit zuständig sind.

Wie realistisch ist dann überhaupt Ihr Ziel der vollständigen Gleichberechtigung?

Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir durch unsere Aktionen wieder einiges erreichen werden. Was mir sehr große Hoffnung macht, ist, dass die jungen Frauen wahnsinnig aktiv sind. Sie wollen sich diesen tagtäglichen Sexismus einfach nicht mehr gefallen lassen.

Und das wollen Sie durch einen Streik erreichen?

Es sind über den Tag verteilt verschiedene Aktionen in allen möglichen Branchen geplant. Um 15.24 Uhr werden die Frauen dann ihre Arbeit niederlegen. Frauen verdienen in der Schweiz ein Fünftel weniger als Männer, auf einen achtstündigen Arbeitstag gerechnet bedeutet das: Ab 15.24 Uhr arbeiten Frauen gratis. Wir haben deshalb dazu aufgerufen, zu dieser Zeit Feierabend zu machen. Dann wird es in ganz vielen Städten Kundgebungen und Demonstrationen geben, zum Beispiel in Bern, Zürich, Basel, Lausanne, Genf und Bellinzona.

Es gab einige Kontroversen im Vorfeld des Frauenstreiks. Der Schweizer Arbeitgeberverband hat darauf hingewiesen, Teilnehmerinnen müssten womöglich mit Konsequenzen rechnen, wenn sie daran teilnähmen.

Das haben sie 1991 auch gesagt. Damals wurde im Vorfeld versucht, den Frauen Angst einzujagen, kaum eine Drohung wurde wahr gemacht. Aber wenn man auch heute noch aus allen Rohren schießen muss, um eine verlängerte Mittagspause oder einen einmaligen Feierabend um 15.24 Uhr zu verhindern, dann hat man ganz offensichtlich ein Problem mit der Gleichstellung.

Interview am Morgen

Diese Interview-Reihe widmet sich aktuellen Themen und erscheint von Montag bis Freitag spätestens um 7.30 Uhr auf SZ.de. Alle Interviews hier.

Gerade in der Pflege ist das aber doch tatsächlich problematisch. Würden alle Mitarbeiterinnen um 15.24 Uhr nach Hause gehen, hätte das weitreichende Folgen.

Eigentlich wäre es ja das Beste, wenn die Männer die Arbeit der Frauen an diesem Tag übernehmen würden. Aber in der Pflege gibt es dafür gar nicht genügend Männer. Deshalb haben sich viele Mitarbeiterinnen dazu entschieden, ihre wichtige Arbeit sichtbar zu machen, dabei aber einen Anstecker zu tragen: "Stellen Sie sich vor, ich würde heute streiken." Die Botschaft soll darauf hinweisen, wie notwendig, aber schlecht entlohnt die Arbeit dieser Frauen ist.

Die Rolle der Männer wurde stark diskutiert. Dürfen Männer am Frauenstreik teilnehmen?

Die Männer sind sogar aufgerufen teilzunehmen: Indem sie den Streik unterstützen, die Arbeit der Frauen übernehmen, an diesem Tag die Kinder betreuen oder ihre Schichten übernehmen und so den Frauen ermöglichen zu streiken. So ist das zum Beispiel in einigen Kindertagesstätten der Fall, wo die Väter am Nachmittag die Kinder betreuen. Aber die Männer sollen auch bei den Streikaktionen und Kundgebungen als Helfer mitarbeiten, in den hinteren Reihen der Demonstrationen mitlaufen und sich solidarisch zeigen.

Warum nur in den hinteren Reihen?

Die Frauen sollen gesehen werden. Es geht um die Sichtbarkeit und Anerkennung ihrer Arbeit. Die Männer sollen das unterstützen, aber stehen dabei nicht im Vordergrund, das tun sie ja sonst immer.

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