Schweiz:Ruf der Helvetia

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Im Nationalrat, der großen Kammer des Schweizer Parlaments, sind nur ein Drittel der Abgeordneten Frauen. In der kleinen Kammer sind es noch weniger. Eine Initiative will, dass sich das ändert.

(Foto: Manuel Winterberger/imago)

Fast 50 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts sind Männer in der Politik überrepräsentiert. Eine Bewegung von fast 600 Schweizerinnen will das nicht mehr hinnehmen. Sie kandidieren einfach selbst.

Von Isabel Pfaff, Bern

Manchmal fängt die Revolution mit Listenplatz Nummer 23 an. Einer der letzten Plätze auf einer Liste des Kantons Bern, noch dazu von den Grünliberalen, einer Partei, die im Moment ganze acht Abgeordnete im Parlament stellt. Bettina Knellwolf sieht das nicht als Nachteil. "Ich bin Teil dieser Bewegung, kann viel lernen, und in vier Jahren bin ich vielleicht schon an einem ganz anderen Punkt."

Die 33-Jährige sitzt an einem frühen Julimorgen in einem Café in Bern, das Bundeshaus ist keine 500 Meter entfernt. Frauen sind dort unterrepräsentiert: Der Nationalrat, die große Kammer mit 200 Sitzen, hat eine Frauenquote von knapp 32 Prozent; im Ständerat, der kleinen Kammer, die die Kantone repräsentiert, sitzen sogar nur 13 Prozent Frauen. Das will Bettina Knellwolf, eine schmale Frau mit braunem Pony, nicht länger hinnehmen. Deshalb kandidiert sie nun selbst - sie und fast 600 weitere Schweizerinnen.

Die Folge sind Gesetze, die sich am Gesellschaftsbild der Nachkriegszeit orientierten

Sie alle haben sich "Helvetia ruft" angeschlossen, einer überparteilichen Initiative, die mehr Frauen in die Schweizer Politik bringen will. Im Oktober wählen die Eidgenossen ein neues Parlament, und diesmal, so das Ziel der Initiatorinnen, sollen die Quoten höher sein. "Frauen sind immer noch nicht angemessen an politischen Entscheidungen beteiligt", sagt Kathrin Bertschy, "und das 50 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts." Bertschy ist eine der Erfinderinnen der Initiative. Die 40-Jährige ist selbst Politikerin, sitzt seit zwei Legislaturen für die Grünliberalen im Nationalrat. Sie ist außerdem Co-Präsidentin von "Alliance F", dem Verband der schweizerischen Frauenorganisationen. Die Folge des Männerüberschusses in der Politik, sagt Bertschy, seien Gesetze, die sich am Gesellschaftsbild der Nachkriegszeit orientierten: ein Steuersystem, das Frauen in die Hausfrauenrolle dränge, der eintägige Vaterschaftsurlaub, Kinderbetreuung, die aufgrund geringer staatlicher Bezuschussung sehr teuer ist. Bertschy will, dass Frauen in der Politik nicht nur mitmachen, sondern Strukturen verändern und Prioritäten setzen können. "Dafür muss ihr Anteil im Parlament steigen."

Bertschy und ihr Team haben "Helvetia ruft" im Herbst 2018 lanciert. Als Projektträgerinnen konnten sie Abgeordnete aus allen wichtigen Parteien gewinnen, sogar eine Politikerin der rechtskonservativen SVP ist dabei. Die Kernbotschaft der Kampagne: Es macht einen Unterschied, ob mehrheitlich Männer Politik gestalten - oder ein wirklich durchmischtes Parlament. "Wir stellen fest, dass Frauen in Gleichstellungsfragen anders abstimmen als Männer, egal zu welcher Partei sie gehören", sagt Bertschy.

Bettina Knellwolf bekommt vom Kampagnenstart im September nichts mit. Für Politik hat sich die Betriebswirtin, die für das Swiss Economic Forum arbeitet, nie besonders interessiert. Dafür entwickelte sie schon früh ein Gespür dafür, dass für sie als Frau andere Regeln gelten als für Männer, etwa bei der Berufswahl. "Immer wieder haben mir Verwandte oder Bekannte geraten, etwas zu studieren, womit man später gut Teilzeit arbeiten kann", erzählt Knellwolf. Das habe sie in ihrer Entscheidung beeinflusst. Heute sieht sie diese Ratschläge kritisch. "Warum muss immer die Frau zurückstecken, sobald ein Kind da ist?" Es ist Dezember, als Knellwolf sich mal wieder mit einer Freundin über das Thema unterhält. Über die vielen Frauen, die mit der Geburt der Kinder ihre Jobs aufgeben, über die teuren Kitas und über die Kollegen, die sie fragen, warum sie eigentlich Kinder will, wenn sie nicht zu Hause bleiben möchte. "Ich habe mich so in Rage geredet, dass sie mir irgendwann gesagt hat: Du musst in die Politik gehen." Die Freundin erzählt ihr von "Helvetia ruft". Knellwolf ist interessiert, kurze Zeit später registriert sie sich auf der Website.

Zehn Monate nach dem Kampagnenstart ist Kathrin Bertschys Team zufrieden: 571 Frauen haben sich angemeldet, 500 waren das Ziel. Auf der Liste sind Kandidatinnen aus fast allen Kantonen. Etwa ein Drittel der Frauen war auf Kantons- oder Gemeindeebene schon politisch aktiv, ein Drittel hat schon einmal fürs nationale Parlament kandidiert, und die verbleibenden 30 Prozent sind politische Neulinge wie Bettina Knellwolf. Per Newsletter informierte "Helvetia ruft" die Frauen zunächst über die ersten Schritte: wann sie sich bei einer Partei melden müssen, wann die Wahllisten gemacht werden. Knellwolf findet ihre Partei mit einem Online-Tool. Als sie sich bei der Berner Sektion der Grünliberalen meldet, sind die Listen schon gemacht, aber einer der hinteren Plätze ist noch frei. "Ich habe sofort ja gesagt."

Bei einem Vernetzungstreffen von "Helvetia ruft" begegnet sie Frauen aus der ganzen Schweiz. In Workshops lässt sie sich erklären, wie man mit kleinem Budget eine Wahlkampagne aufzieht, wie man sich gut präsentiert und was im Umgang mit Journalisten zu beachten ist. "Wir wollen die Frauen bestärken und motivieren", sagt Initiatorin Bertschy, "helfen ihnen aber auch bei simplen technischen Fragen und erklären die Abläufe einer Kandidatur."

"Ich bin Ökonomin, ich möchte mich eigentlich für nachhaltige Wirtschaftsformen einsetzen"

"Helvetia ruft" ist es gelungen, die Frauenfrage im Schweizer Wahljahr in den Fokus zu rücken - auch, indem die Initiatorinnen "subtil Druck ausüben", wie Bertschy es formuliert. Schon Ende 2018 haben sie alle Parteien angeschrieben und angekündigt, dass sie die Wahllisten genau beobachten werden. Im September soll es dann ein Ranking geben. "Helvetia ruft" will einen Wettbewerb entfachen: Welche Partei in welchem Kanton gibt Frauen die meisten Chancen? Bertschy präzisiert: "Und ich meine: echte Chancen, also gleich gute Listenplätze." Was ihr Team schon jetzt sagen kann: 2019 kandidieren mehr Frauen fürs Parlament als noch 2015. Ob daraus auch mehr weibliche Abgeordnete werden, wird der 20. Oktober zeigen.

Vielleicht, so Kathrin Bertschys Hoffnung, können sich ab Herbst wieder mehr Politikerinnen mit ihren Fachgebieten beschäftigen statt mit Gleichstellung. "Ich bin Ökonomin, ich möchte mich eigentlich für nachhaltige Wirtschaftsformen einsetzen", sagt sie. Doch so lange die Situation in der Schweiz für Frauen so schwierig sei, müsse sie erst einmal Gleichstellungspolitik machen. Auch Bettina Knellwolf hofft auf einen Erfolg der Frauen-Kampagne. Sie selbst, da ist sie sich ziemlich sicher, wird es nicht ins Parlament schaffen. In der Politik bleiben und sich für mehr Chancengleichheit einsetzen, will sie trotzdem. 2020 wählt Bern einen neuen Stadtrat, sie kann sich gut vorstellen, dann wieder zu kandidieren.

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