Wissenschaftler in Notre-Dame:Lasst uns gotisch sein!

Wissenschaftler in Notre-Dame: Mammutaufgabe: Das Kirchenschiff vor der Räumung.

Mammutaufgabe: Das Kirchenschiff vor der Räumung.

(Foto: Philippe Lopez/AFP)

Blei in der Luft, murrende Gelbwesten und ein übereifriger Präsident. In Paris sind vier Monate nach dem Brand in der Kathedrale Notre-Dame nur die Forscher euphorisch.

Von Joseph Hanimann, Paris

Sie steht noch da. Seit vier Monaten fährt einem, wenn man an der Pariser Notre-Dame vorbeikommt, dieser Satz mit seiner Mischung aus Ungläubigkeit, Entsetzen und Trost durch den Kopf. Es war der Satz, mit dem der Schriftsteller und Journalist Albert Londres am 29. September 1914 in der Zeitung Le Matin seine berühmte Reportage über die Kathedrale von Reims begann, nachdem diese durch die deutschen Truppen beschossen worden war. Kein Dach mehr über dem Gewölbe, Tageslicht, das durch die löchrige Decke dringt, und im Innern verrußtes Gemäuer mit den Spuren von herabgeronnenem Blei, schrieb der Autor damals.

Eines aber ist anders. Heute herrscht nicht mehr Krieg, und die Arbeiten an Notre-Dame sind schon nach vier Monaten weit vorangeschritten.

Vor den mit Stacheldraht geschützten Absperrungswänden knipsen die Touristen Selfies mit dem Doppelgesicht der Kirche als Hintergrund. Auf der Westfassade sieht sie praktisch so aus wie zuvor, abgesehen vom fehlenden Vierungsturm. Auf den drei anderen Seiten zeigt sie hingegen mit den Holzverschalungen, den abmontierten Glasfenstern, den weißen Planen statt eines Dachs und den in den Himmel ragenden Giebelstümpfen das Ausmaß des Schadens.

Sonst bekommen Wissenschaftler nur selten Lizenzen für Bohrproben. Nun liegt das Material massenweise am Boden herum.

Die Räumung der verkohlten Dachbalken und heruntergefallenen Mauerstücke im Inneren neigt sich dem Abschluss entgegen. Dutzende Wissenschaftler, Denkmalexperten, Fahndungsbeamte, Ingenieure und Bauarbeiter waren bis vor Kurzem mit dem Sichten, Aussortieren und Beseitigen der Trümmer beschäftigt. Ende Juli musste die Arbeit wegen des zu hohen Bleigehalts am Boden und auf den Wänden ausgesetzt werden. In der nächsten Woche soll sie unter verschärften Schutzvorkehrungen weitergehen. Im Inneren der Kirche werden zwei ferngesteuerte Bagger eingesetzt, denn wegen des weiterhin drohenden Absturzes von Gewölbeteilen ist das Betreten des Hauptschiffs verboten.

Der Chefarchitekt für die Rettung von Notre-Dame, Philippe Villeneuve, ist aber halbwegs erleichtert in den Urlaub gefahren. Sämtliche 28 äußeren Strebepfeiler rund ums Kirchenschiff sind mit gigantischen Holzbögen abgestützt worden. Auch die Befürchtung des Architekten, die nach den Löscharbeiten auf Jahre gespeicherte Feuchtigkeit in den Mauern könnte nach der Hitzeschockwelle dieses Sommers die Fugen noch bröseliger machen, scheint sich einstweilen nicht zu bestätigen. Die Fugen zwischen den millimetergenau eingepassten Steinen seien so dünn, dass sich wenig Angriffsfläche biete, sagen die Spezialisten.

Thierry Zimmer, Kunsthistoriker und stellvertretender Direktor des Laboratoire de Recherche des Monuments Historiques (LRMH), der mit seinen Leuten seit April am Ort tätig ist, zeigt sich geradezu optimistisch. Der Kathedrale gehe es gut, sagt er, während er im Bistro "Quasimodo" seinen Schutzhelm auf den Nebenstuhl legt und zur Menükarte greift. Zimmer hat schon ganz anderes gesehen. Das 1967 gegründete Labor LRMH wird quer durch Frankreich überall dort herbeigerufen, wo eine Kirche, ein Schloss, eine Brücke oder sonst ein denkmalgeschütztes Bauwerk Rettung braucht. Wie er am 15. April vom Brand in der Notre-Dame erfahren habe, wisse er schon gar nicht mehr genau, sagt er: "Im Fernsehen wahrscheinlich." Bei aller staatstragenden Gravität: Notre-Dame ist für Zimmer mehr eine berufliche als eine emotionale Herausforderung.

Das Recherchelabor ist nach Materialkategorien eingeteilt: Stein, Holz, Metall, Glas, Textil, Beton, Mikrobiologie. Fast alle 23 Wissenschaftler sind für Notre-Dame im Einsatz. Manche von ihnen können ihre Euphorie nur schlecht verbergen. Normalerweise werde die Erlaubnis für Bohrproben zur Altersbestimmung der Balken in solchen Bauwerken nur spärlich vergeben, und nun liege das Material massenweise auf dem Boden herum, schwärmt die Molekularbiologin Martine Regert.

Gewiss, durch den Brand ging manches verloren, dafür kann viel Wissen über die Kathedrale gewonnen werden. Konkrete Ergebnisse liegen noch nicht vor, die Erforschung des Materials hat kaum erst begonnen. Überraschend erscheint manchen Experten aber heute schon der unerwartet hohe Eisenanteil in den Trümmern, als wären die Kathedralenbauer des 13. Jahrhunderts mit diesem Material besser vertraut gewesen als bisher angenommen. Einige träumen auch schon von genaueren Kenntnissen darüber, in welchen mittelalterlichen Wäldern die Eichen für den 120 Meter langen Dachstuhl geschlagen wurden.

Ein echtes Problem ist hingegen das Blei. Mehr als zweihundert Tonnen wogen die fünf Millimeter dicken Dachplatten, für die der Bischof und Notre-Dame-Gründer Maurice de Sully testamentarisch in seinem Todesjahr 1196 noch fünftausend Livres gespendet hatte. Dazu kamen weitere 250 Tonnen von dem ganz in Blei gefassten Vierungsturm des Restaurationsarchitekten Eugène Viollet-le-Duc im 19. Jahrhundert. Blei schmilzt bei 327 Grad und wird bei sehr hohen Temperaturen gasförmig. Beim Brand stieg die Hitze bis auf 900 Grad. Rund um Notre-Dame werden nun überdurchschnittlich hohe Bleiwerte gemessen. Auf manchen Plätzen und Schulhöfen in der Umgebung der Kathedrale hat in dieser Woche eine gründliche Reinigung begonnen.

Die Glasmalereien sind heil. Schimmel ist nur auf einer herabgestürzten Engelsbüste, die Orgel reparierbar.

Die Laune der Forscher können solche Sorgen nicht trüben. Zimmer hält fest: Die Hauptsache sei gerettet. Noch während des Brandes sei alles Transportierbare in Sicherheit gebracht worden. Von den drei wegen ihres Formats hängen gebliebenen Bildern sei jenes im Chor unbeschädigt und die beiden im Querschiff zeigten, soweit man das durchs Fernrohr sehen könne, auch keine gravierenden Schäden.

Modern sein bedeutet nicht, alles anders zu machen

Die Glasmalereien sind heil, Schimmel ist bisher nur auf einer herabgestürzten Engelsbüste gefunden worden, die Orgel ist reparierbar, und unmittelbar vor der Pietà von Nicolas Coustou aus dem 17. Jahrhundert verbrannten im Chor Balkenstücke, ohne den Marmor auch nur anzuschwärzen. Was die Gebäudestatik angehe, meint der Experte, sei kein größeres Unheil zu befürchten, "außer es fegt ein Sturmtief wie einst Lothar übers Land".

Andere sind vorsichtiger. "Teile des Gewölbes und auch die oberen Partien der Außenmauern müssen eventuell ausgewechselt werden", erklärt Barbara Schock-Werner, ehemalige Dombaumeisterin des Kölner Doms und heute Koordinatorin der deutschen Hilfsangebote für Notre-Dame. Denn ausgeglühte Steine hätten ihre Festigkeit verloren. Schock-Werner hat die zahlreichen materiellen und finanziellen Angebote aus Deutschland gesichtet. Allein aus Nordrhein-Westfalen seien 900 000 Euro zusammengekommen. Steinmetze, Fachleute der Digitaltechnologie oder Spezialunternehmen von überall her warteten nur darauf, loslegen zu können.

So weit ist man in Paris noch nicht. Nach Abschluss der Räumung im Kirchenschiff, voraussichtlich im Herbst, muss zuerst das noch vor dem Brand installierte Baugerüst auf dem Dach abmontiert werden. Dessen Stäbe wurden durch die Flammen ineinander verschweißt und sind heute Teil der fragilen Gebäudestatik. Unter dem Kirchengewölbe wird dann ein Holzboden zur Inspizierung der Mauern und zur Lagerung des Baumaterials für die Errichtung des neuen Dachstuhls eingezogen. Und damit beginnt die Kontroverse.

Um die in den ersten Wochen nach dem Brand florierenden Architekturvisionen mit öffentlichem Dachgarten, Kristallglasgiebel, Stahlhaube, Laserturm und sonstigen Verrücktheiten ist es stiller geworden. Publikumsumfragen, aber auch die Warnungen namhafter Persönlichkeiten haben die Fantasien abgekühlt.

Ein achthundertjähriges Bauwerk wie Notre-Dame sei kein Spielzeug für selbstverliebte Formtändelei, wurde eingewandt. Modern sein bedeute nicht, alles anders zu machen, erklärt der Architekt Jean Nouvel und mahnt: "In diesem Fall müssen wir gotischer sein denn je." So wie der Gotik-Bewunderer Eugène Viollet-le-Duc im 19. Jahrhundert mit seinem frei erfundenen neogotischen Vierungsturm für Notre-Dame, der nun ausbrannte und abstürzte?

Der Vatikan betont den religiösen Aspekt der Restaurierung. Die Franzosen finden: Erstmal solle er sich an den Kosten beteiligen.

Der Wunsch des Präsidenten Emmanuel Macron nach einem Wiederaufbau "eventuell mit einer zeitgenössischen Architekturgeste" steht jedenfalls für die Fachwelt nicht auf der Prioritätenliste. Prosaischer lautet zunächst die Frage, ob der Dachstuhl wieder aus Holz oder aus Stahl sein soll. Der Chefarchitekt Villeneuve und seine Kollegen plädieren für die Holzversion, nicht nur aus Liebe zum Original, sondern auch aus Überlegungen der Statik. Durch eine Stahlkonstruktion wäre der Druck des Dachs auf die Außenmauern zu gering, sie könnten wegkippen.

Politisch jedoch hat die Regierung mit dem im Juli verabschiedeten Sondergesetz für die Wiederinstandsetzung von Notre-Dame höchstes Tempo vorgelegt. Das Gesetz legt die Regeln für die Geldspenden fest und sieht eine staatliche Projektleitung für den Bau vor. Dessen Direktor, der ehemalige Armeegeneral Jean-Louis Georgelin, hat sein Büro im Pariser Elysée-Palast bezogen.

Im umstrittenen Artikel 9 vereinfacht das Gesetz aber auch das Baugenehmigungsverfahren für Notre-Dame in den Bereichen Stadtplanung, Umwelt und Denkmalschutz. Unnötig, gefährlich, skandalös, protestieren die Gegner, denn der Staat gebe damit ein schlechtes Beispiel für den Umgang mit seinen eigenen Vorschriften. Thierry Zimmer sieht das gelassener. Ausnahmeregelungen seien ihm zwar auch suspekt, sagt er, "doch der Gesetzestext benennt klar genug die einzelnen Ausnahmen, sodass kein Unfug mit ihnen angestellt werden kann".

Und wie sehen das die Hauptnutzer der Kathedrale, die Pariser Katholiken? Notre-Dame sei nicht nur ein Kulturdenkmal, sondern auch ein geistiger Ort, sagte bei der ersten Messe nach dem Brand in einer Seitenkapelle der mit Schutzhelm ausgerüstete Pariser Erzbischof Michel Aupetit in seiner Predigt: Wer das vergesse, mache Kultur zur Unkultur. In einem Land, das zwischen Staat und Kirche scharf trennt, hat sich nun zwischen dem Staat als Gebäudeinhaber und der Kirche als Gebäudenutzer ein Dialog entsponnen, auch wenn dieser unterschwellig manchmal gereizt ist.

Der religiöse Aspekt müsse ein entscheidender Bestandteil der Restaurierung sein, mahnte unlängst der Nuntius des Vatikans bei der Unesco. Manche Franzosen reagieren auf diese Forderung unwirsch: Dann solle der Vatikan gefälligst die Renovierung mitfinanzieren, finden sie. Mehr als ein paar Rosenkranzkügelchen sei vom Vatikan nicht zu erwarten, konterte zu Mariä Himmelfahrt der Rektor von Notre-Dame, Patrick Chauvet, fügte aber beschwichtigend hinzu, entscheidend sei für die Kirche zunächst, dass auch im dereinst restaurierten Gotteshaus von den Besuchern kein Eintrittsgeld verlangt werde.

Doch das Murren der Katholiken ist nichts verglichen mit der Unruhe der Franzosen fern der Hauptstadt. "Alles für eine Pariser Kirche, nichts für uns", wurde in Kreisen der "Gilets jaunes" gemurrt nach den spontanen Spendenzusagen von mehr als achthundert Millionen Euro. Zahlreich sind die Dorfkirchen quer durchs Land, für deren dringende Restaurierung die dafür zuständigen Bürgermeister vergeblich um Unterstützung betteln. "Das ist eines unserer Hauptprobleme", bestätigt Thierry Zimmer: "In Frankreich liebt man die großen Rettungsaktionen, viel weniger hingegen den kontinuierlichen Unterhalt." Das Herumschweben im Gewölbe zwischen den Putten von Notre-Dame ist einfach aufregender als das ständige Auskleistern von kleinen Mauerrissen.

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