Nachruf:Mumbais Chronist

Kiran Nagarkar, 2005

Kiran Nagarkar (1942-2019)

(Foto: SZ Photo)

Der indische Schriftsteller Kiran Nagarkar, bekannt vor allem für seinen Roman "Gottes kleine Krieger", ist im Alter von 77 Jahren gestorben.

Von Alex Rühle

Wenn er lachte, wackelten seine hageren Schultern, als würde er auf einem alten Traktor über die schlaglochübersäten Straßen seiner so geliebten wie gehassten Heimatstadt Mumbai tuckern. Dann hielt er plötzlich inne. Und dann kam einer dieser paradoxal funkelnden Sätze. Als Kiran Nagarkar bei einer Lesung im Münchner Literaturhaus - er stellte seinen Roman "Gottes kleiner Krieger" über einen rigorosen Fundamentalisten vor - gefragt wurde, ob er selbst dogmatische Wesenszüge trage, sagte er: "Oh absolut, ich bin ein erzdogmatischer Liberaler." Die Frage, ob er an einen Gott glaube, konterte er dann mit dem Satz, die einzige Gottheit, die Verehrung verdiene, sei das Leben. 77 Jahre lang hat Kiran Nagarkar selbst es nach Kräften verehrt, am vergangenen Donnerstag ist er in Mumbai an einer Hirnblutung gestorben.

Sigrid Löffler nannte "Gottes kleiner Krieger" bei seinem Erscheinen 2006 den "tiefsinnigsten Roman über die spirituellen Wurzeln des Terrors". Nagarkar zeigt darin, wie nahe in allen Religionen der selbstlose Idealist dem selbstherrlichen Fanatiker ist. Zia, sein dunkler Held, durchläuft über die 800 Seiten verschiedene Fundamentalismen, wird vom Islamisten zum Trappisten zum Waffenhändler, sein metallen selbstgerechter Dogmatismus aber bleibt immer der gleiche, ist seine eigentliche Religion doch die extremistische Rechthaberei.

Für die Hindunationalisten wurde Nagarkar zu einer Art Lieblingsfeind

Nagarkar wusste genau, worüber er da schreibt, er konnte den Fundamentalismus sein Leben lang aus nächster Nähe studieren: Sein erstes Buch veröffentlichte er 1974 auf Marathi, der Sprache des Bundesstaates Maharashtra (und Mumbais). "Seven Sixes are Forty-Three" wurde mit seinen grotesken Sexszenen und den schonungslos lakonischen Beschreibungen des indischen Alltags von den einen als Meilenstein gefeiert. Für die Hindunationalisten der damals erstarkenden Shiv Sena Partei aber war Nagarkar mit diesem Buch und seinem Theaterstück "Bedtime Storys" zu einer Art Lieblingsfeind avanciert. 1994 veröffentlichte Kiran Nagarkar dann den Roman "Ravan und Eddie", eine Hochgeschwindigkeitsgroteske über zwei Jungen, einer hinduistischer, der andere portugiesisch-katholischer Herkunft. Beide werden kurz nach der Unabhängigkeit geboren, wachsen im selben Haus auf und sind einander spinnefeind. Dabei eint sie, das sie trotz all der Pannen und Pleiten, aus denen ihr Leben im Grunde besteht, nie die Hoffnung verlieren. Die eigentliche Hauptfigur aber ist die Stadt selbst, Bombay / Mumbai, mit seinen Slums und Protzpalästen, seinen 120 Sprachen, Gottheiten und Ethnien, den hehren Visionen Gandhis und den grellen Bildern Bollywoods. Nagarkar streut durch das Buch Essays über verschiedene Phänomene der Stadt - die Architektur, das kaputte Bildungssystem, das elende Kastenwesen -, geschrieben im Stil journalistischer Leitartikel, deren hochtrabende Attitüde permanent von seiner eigenen Ironie und einem fast schon verzweifelten Sarkasmus torpediert werden. Noch heute kann man jedem, der nach Mumbai reist, dieses Buch als Vorbereitung empfehlen.

Als Nagarkar für diesen Roman ins Englische wechselte, wurde er von den Reinheitsfanatikern als linguistischer Vaterlandsverräter beschimpft. Er hatte später Lehraufträge in den USA, war auch oft in Deutschland und der Schweiz und hätte wahrscheinlich die Möglichkeit gehabt, sein Heimatland zu verlassen, aber dafür liebte er Mumbai (und seine Frau Tulsi) viel zu sehr. Oder wie der Journalist und Buchautor Sreenivasan Jain mal sagte: "Nagarkar darf gar nicht gehen. Er ist unser Gewissen." Jetzt ist er doch gegangen. Und Mumbai muss in Zukunft ohne seinen großen Chronisten auskommen.

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