Roman von Jackie Thomae:Eine große deutsche Neuigkeit

Jackie Thomae

Die Autorin Jackie Thomae wird oft gebeten, ihren Roman mit ihrer Biografie zu beglaubigen.

(Foto: Urban Zintel)
  • Jackie Thomaes Roman "Brüder" handelt von zwei Männern, die den gleichen Vater haben, jedoch weder einander, noch den Vater kennen.
  • Der Roman ist deswegen so beeindruckend, weil es Thomae schafft, dass darin "race, class and gender" Thema sind und gleichzeitig nicht das Thema sind.
  • Formen und Fragen sind davon nicht abhängig. Der Roman ist außerdem angenehm beiläufig erzählt.

Von Marie Schmidt

Es ist ja immer interessant zu sehen, wie Deutschland sich als vielfältiges Land so macht. Neulich zum Beispiel wurde im Frühstücksradio ein Mensch interviewt, der den Deutschen Fußballbund in Ethikfragen berät. Es ging um einen unmissverständlich kolonial-rassistischen Ausfall des Schalke-Aufsichtsratschefs Clemens Tönnies. Der Ethikkommissar gab sich so skrupulös, wie es das Thema zu gebieten schien, gleichzeitig aber so jovial, wie es das Fußballfunktionärswesen offenbar erfordert. Also er eierte herum. Man werde den Fall analysieren, sagte der Mann, und habe übrigens mit Gerald Asamoah telefoniert, "sehr bewusst mit einem Menschen, der ja betroffen war von diesen Äußerungen". Das Ganze diente, wie man inzwischen weiß, der Abmoderation der Angelegenheit. Der DFB verzichtete auf Sanktionen, seine Sprüche bleiben für Tönnies weitgehend folgenlos.

Das ist ungefähr der Stand der Dinge: Wenn es ein Problem gibt mit dieser doch sehr von Homogenität geprägten Gesellschaft, wendet man sich treuherzig an Leute, die man als "Betroffene" ausmacht. An Asamoah zum Beispiel, weil der in Ghana geboren ist. Von denen will man dann hören, dass im Grunde alles in Ordnung ist. Als sei nicht vor allem die weiße Mehrheitsgesellschaft von den Ressentiments ihrer Mitglieder betroffen. Der deutschen Befindlichkeit wäre es lieber, wenn Herkunft und Hautfarbe einfach kein Thema wären. Genau dadurch werden sie dann aber ausbruchsartig und ungeschickt zum Riesenthema. In Jackie Thomaes Roman "Brüder" wird dieser Zustand wahnsinnig elegant um- und unterspielt.

Wobei man sich schon beim Nacherzählen seiner Handlung leicht in entsprechende Widersprüche verheddert. Weil es einerseits interessant ist, welche Rolle Autoren und Figuren mit afrikanischem Hintergrund in der deutschsprachigen Literatur einnehmen. Zumal es hier bisher keine Entsprechung zu so etwas wie der afroamerikanischen Literaturtradition gibt. Andererseits wäre es fatal, eine Geschichte, deren Protagonisten schwarz sind, zu lesen, als gehe es vor allem darum, dass sie es sind. Oder wird je ein Sterbenswörtchen darüber verloren, wie weiß die Figuren der deutschen Literaturgeschichte sind?

Es geht also in "Brüder", so einfach wie möglich gesagt, um zwei gleich alte Männer, die denselben Vater haben. Den kennen sie aber nicht und einander kennen sie auch nicht. Dieser Vater hat um 1970 in der DDR Medizin studiert, als Gast aus den jungen, postkolonialen Nationalstaaten Afrikas. Und hat, als er nach Senegal zurückging, in Leipzig und Berlin je eine Frau mit einem kleinen Jungen zurückgelassen.

Die Autorin soll sich als "Betroffene" des Plots erklären

Jackie Thomae erzählt die Geschichten der Söhne getrennt voneinander. Erst die eine, dann die andere, ordentlich je eine Hälfte ihres Romans. Die erzählte Zeit läuft chronologisch ab: Was sie von Mick erzählt, einem Neunzigerjahre-Taugenichts, der unbedarft auf den Wellen des Hedonismus durch das Nachwende-Berlin surft, spielt zwischen 1985 und der Jahrtausendwende. Den anderen, Gabriel, einen Londoner Architekten und No-Bullshit-Typen, lernt man erst im Jahr 2000 kennen.

Das ist eine gute Konstruktion, um plumpe Parallelen zu vermeiden. Thomae zieht keine expliziten Vergleiche zwischen den beiden Leben. Zur Spiegelgeschichte setzen sie sich erst im Kopf der Leserin zusammen und auch die üblichen Fragen entstehen da und nur da: Zwei Jungen wachsen als einziges Kind in ihrer Umgebung mit dunkler Hautfarbe auf, mit einer alleinerziehenden Mutter und in der DDR - prägt sie das ähnlich? Teilen sie Erfahrungen, Strategien? Gehören sie einer Minderheit an? Würden sie sich als Gefährten empfinden, wenn sie sich träfen? Man kann in "Brüder" viele und auch sich widersprechende Antworten darauf finden, ohne dass sie vorformuliert wären. So beschäftigt einen der Roman lange.

Deswegen ist es eigentlich Spielverderberei, wenn Jackie Thomae solche Fragen jetzt in Interviews gestellt bekommt. Als sollte sie im Nachhinein klarstellen, was sie mit Absicht offengelassen hat. Und sie wird gebeten, alles mit ihrer eigenen Biografie abzugleichen: 1972 geboren, in Leipzig aufgewachsen, ihre Mutter hat sie alleine aufgezogen, ihren Vater, einen Aachener Zahnarzt aus Guinea, hat sie erst 2014 kennengelernt. Die Autorin soll sich als "Betroffene" des Plots, den sie gerade aufgeschrieben hat, erklären, und über Rassismus in Deutschland Auskunft geben.

Dabei ist das Berückende und Informative an ihrem Roman gerade, wie Thomae es schafft, dass darin "race, class and gender" Thema sind, aber gleichzeitig nicht das Thema sind. Die Geschichte von Mick zum Beispiel handelt eher von einem bestimmten Typ Szene-Tiger, planlos, den Kopf voller wirrer Ideen, mit Vollgas von einer Pleite in den nächsten Gelegenheitsreichtum, von einem Boy-Crush in die nächste Affäre: "Seine anderen Gäste benahmen sich wie immer. Also stürzte er sich auf sie, zückte sein Telefon und bestellte mehr von ihnen. Dings und Soundso sollten schnellstens in ein Taxi springen und hierherkommen. Die und die und der und die, die mit dem zusammen war, wo sind die? Unterwegs? Super! Dann konnten alle gemeinsam ihre Telefone zücken und ihre Dealer bestellen".

Nebenbei gibt es eine Liebesbeziehung mit einer Juristin, die den Chaoten umstandslos in ihr bürgerliches Leben einbaut und in das Eigenheim, das sie aus der "ehemaligen Botschaft eines Zwergstaates" in Pankow gemacht hat. Sie findet das witzig, er, als Kind "innerhalb einer Stadt ausgewandert" aus der DDR, geschmacklos. Dafür ignoriert sie seinen Geruch nach fremden Betten. Wie diese beiden ihre Illusionen umeinander herum arrangieren, ist eine feine Liebesgeschichte unter Individualisten. Dass Thomae in so etwas groß ist, hat schon ihr Episodenroman "Momente der Klarheit" (2015) gezeigt. Sie zeichnet aufmerksam ein egalitäres Milieu, in dem (auf der materiellen Basis bildungsbürgerlichen Wohlstands) äußere Identitätsmerkmale wie Accessoires getragen werden: "Ihr seht aus wie ein Benetton-Plakat", sagt jemand, als Mick einen Club aufgemacht hat, zusammen mit einem Vietnamesen und einem Rothaarigen.

Thomae erzählt beiläufig, ohne die in deutscher Literatur leider beliebten literarisierenden Anstrengungen. Man gleitet in diesen Roman, wie in einen Wortwechsel an der Bar. Alles wirkt wie Zeitvertreib, noch nicht die eigentliche Erzählung. Genau deshalb kommen einem die Figuren nahe, wie neue Bekannte, mit denen man sich in ein Gespräch verwickelt. Und auch Jackie Thomae interessiert sich offenkundig mehr für ihre Charaktere als für ihre eigene Stimme. Manchmal benutzt sie etwas Zeit- und Milieukolorit. Zum Beispiel sagen ihre Neunzigerjahre-Leute Sachen wie "spacig", "coole Socke" oder "Superinfo". Und ein im Osten gebliebener Schulkamerad, den Mick irgendwann wieder trifft, klingt so: "Alter Falter, das war ihm ganz neu, dass er hier bei 'Wünsch dir was' gelandet war." Dieser Kamerad ist übrigens der Einzige, der Mick einmal rassistisch kommt. Der blockt ab: "Opfer, Täter, Ausländer, Rechtsradikaler, rassistisch motivierter Überfall - Mick wollte nichts mit diesen Kategorien zu tun haben. Er würde in seiner Blase bleiben."

Roman von Jackie Thomae: Jackie Thomae: Brüder. Roman. Hanser Berlin, München 2019. 429 Seiten, 23 Euro.

Jackie Thomae: Brüder. Roman. Hanser Berlin, München 2019. 429 Seiten, 23 Euro.

Der zweite Bruder Gabriel indessen ist ein reflektierter Mann. Der kommt nicht so leicht an Identitätskategorien vorbei. Auch nicht in London, das er für "so postrassistisch" hält, "dass man hätte meinen können, es gehe wirklich nur noch ums Geld". Und dann soll er beim Arzt seine Ethnie in eine von vier Kategorien eines Formulars einordnen und dreht fast durch.

In den USA würden man den Roman als "Great American Novel" bezeichnen

Thomae erzählt von Gabriel in erster Person, gegengeschnitten mit der Perspektive seiner Frau Fleur. Der dem Milieu entsprechende Sound psychologischer Selbstbespiegelung wirkt unverarbeiteter als der Ton im ersten Teil des Romans. Diese Biografie eines Mannes zwischen "Anpassungsmanie" und Burn-out und die Geschichte seiner Ehe führen in die Gegenwart. Entsprechend Identitäts-bewegte Debatten und Skandale gibt es. Diese zweite Hälfte läuft nicht so geschmeidig wie die erste, mit einem klaren Effekt: Man erkennt, dass Hautfarbe, Identität, Herkunft nicht ein Thema ist, sondern viele, je nach Umgebung, Zeitstimmung und sozialem Kontext.

Die Pointe des Romans besteht im Kontrast zwischen den Lebensformen der Brüder, dem Verplanten und dem Überstrukturierten, dem Wurschtigen und dem Rechthaberischen. Gemeinsam ist ihnen eine nerdige Fokussiertheit, die gespiegelt wird in ihren aufmerksameren, resilienteren Frauen. Weshalb man auch behaupten könnte, dies sei ein Buch über das Schicksal der Heterosexualität. Es ist übrigens auch eins über Männerfreundschaften. Und die Lücke, die abwesende Eltern lassen. Oder über die DDR und das Nachwende-Land. In den USA gibt es für Romane, in denen Existenzielles, Kulturelles und Zeitgeschichtliches zusammenschießt, den Ausdruck "Great American Novel". Angemessen schief übersetzt kann man sagen, dass "Brüder" wirklich eine große deutsche Neuigkeit ist: Ein Roman, der von Herkunft und nicht-weißer Identität erzählt, ohne seine Formen und Fragen von diesem Thema abhängig zu machen.

Am Ende, das ist vielleicht nicht zu viel verraten, tritt der Vater der Brüder in ihr Leben und die Möglichkeit besteht, dass sie sich kennenlernen. Sogar den kitschgefährdeten Showdown ihres Romans inszeniert Thomae mit einer Lässigkeit, die ihr so leicht keiner nachmacht: In einer Bar im Flughafen Paris-Charles-de-Gaulles, einem Transitraum, durch den Leute aus aller Welt rauschen, ausgerechnet in diesem identitätsleeren Bereich fügen sich die Glieder einer genealogischen Kette zusammen.

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