CSU:Seehofer - plötzlich so mild wie Merkel

  • Die Zusage von Innenminister Seehofer, ein Viertel der vor Italien und Malta geretteten Migranten nach Deutschland einreisen zu lassen, verschreckt vor allem Konservative Teile der CSU.
  • Skeptiker wie Fraktionschef Thomas Kreuzer fürchten einen sogenannten Pulleffekt - zusätzliche Anreize für Migranten, sich auf den Weg nach Europa zu machen.
  • Kenner behaupten, gut die Hälfte der CSU-Landtagsfraktion in Bayern hadere zudem mit Söders Wandlung in der Umweltpolitik.

Von Wolfgang Wittl

Die beiden Herren neigen gemeinhin nicht zur Sprachlosigkeit, aber in diesem Fall machten sie gern eine Ausnahme. Er kenne das Thema nur aus Zeitungen, er stecke da nicht so tief drin. Deshalb müsse er das jetzt nicht kommentieren, sagte Alexander Dobrindt. Was insofern überraschte, weil der grundsätzlich topinformierte Berliner CSU-Statthalter sein Wissen sonst keineswegs nur aus Zeitungen bezieht und Dinge selten unkommentiert lässt. Knapper als Dobrindt äußerte sich lediglich der Parteichef. Es sei "alles gesagt", antwortete Markus Söder auf zweimalige Nachfrage. Alles gesagt?

Wie Säure frisst sich die Diskussion über die Seenotrettung durch die CSU, und es lässt sich nicht erkennen, dass ein Ende in Sicht wäre. Die Zusage von Bundesinnenminister Horst Seehofer, ein Viertel der vor Italien und Malta geretteten Migranten nach Deutschland einreisen zu lassen, hat die CSU in eine Aufgeregtheit versetzt, die an verdrängt geglaubte Zeiten erinnert. Es ist kein lauter Knall, der die Partei durchrüttelt wie im dreijährigen Flüchtlingsstreit, eher ein leises Zischen. Im Hintergrund schwingt die Frage mit: Entweicht hier vielleicht der Frust in einer Partei, die sich generell überfordert fühlt von Tempo und Dichte all der Veränderungen, die im Moment über sie hereinbrechen? Geht es in Wahrheit um mehr als ein paar Schiffe im Mittelmeer?

Die bloßen Zahlen lassen diesen Rückschluss zu. Für 565 Bootsflüchtlinge hat die Bundesregierung seit Sommer 2018 ein Asylverfahren in Aussicht gestellt, 225 sind bislang angekommen. Für Bayern bedeutet das zurzeit 35, später höchstens 80 Migranten. 80 Menschen in 15 Monaten. Dennoch lässt Seehofers Ankündigung, ein Viertel der Geretteten aufzunehmen, die Kritik anschwellen: in der Unionsfraktion, in der Berliner Landesgruppe, in der bayerischen Landtagsfraktion, an CSU-Stammtischen. Skeptiker wie Fraktionschef Thomas Kreuzer fürchten einen sogenannten Pulleffekt - zusätzliche Anreize für Migranten, sich auf den Weg nach Europa zu machen. "Das wollen wir nicht", sagte Kreuzer bei der Fraktionsklausur in Kloster Banz. Der von AfD-Sorgen gebeutelte Thüringer CDU-Spitzenkandidat Mike Mohring assistierte: "Das stärkt nur wieder die, die am rechten Rand stehen."

Söders und Dobrindts beredtes Schweigen in Banz kann als Zustimmung gedeutet werden - "alles gesagt". Es ist nicht nur eine Geschichte von politischem Pro und Contra, sondern auch eine von persönlicher Nähe und Distanz. Die Vertrautheit, die den früheren Parteichef Seehofer und seinen Schüler Dobrindt einst auszeichnete, hat die Transformation ins neue Machtgefüge nicht unbeschadet überstanden. Wie Söder hält Dobrindt es aber für klüger, die Debatte mit offener Kritik an Seehofer nicht zusätzlich zu befeuern.

Hinter verschlossenen Türen zollen Söder und Dobrindt der aufgeheizten Stimmung aber durchaus Tribut. Es ist nicht überliefert, dass sie Seehofer wortreich verteidigten, wenn Abgeordnete ihrem Ärger Luft machten. Söder berichtete in der Fraktionssitzung am Mittwoch freimütig, dass die CSU wegen der Seenotrettung Austritte zu verzeichnen habe, was sich dramatischer anhört, als es wohl wirklich ist. Die Parteizentrale nennt grundsätzlich keine Zahlen, dem Vernehmen nach handelt es sich aber um eine überschaubare Delle.

Trotzdem grassiert in der CSU die Angst, das Flüchtlingstrauma könne wieder aufbrechen. Vielleicht auch deshalb versicherte Söder in Banz eilfertig, dass er kein Aufflammen der Grundsatzdebatte befürchte. Für den Parteichef kommt es darauf an, die Balance zu halten: Ruhe bewahren, aber Sorgen der Basis nicht ignorieren. Dass Söder in drei Wochen vor seiner ersten Wiederwahl als Parteichef steht, mag ihn in seinem Bestreben, niemanden zu verprellen, bestärken.

Auch Joachim Herrmann mahnte in interner Sitzung, die Bevölkerung dürfe nicht verunsichert werden. CSU-Innenminister gegen CSU-Innenminister, das hätte was. Herrmann ist einer der wirklich bekennenden Christen in der C-Partei, er ist aber auch Jurist. Er möchte, dass Bootsflüchtlinge in Europa erst verteilt werden, wenn man wisse, ob sie schutzbedürftig sind. Die Lage in Afrika und im Nahen Osten bezeichnete Herrmann nach Teilnehmerangaben als ernst zu nehmend, aber nicht explosiv. Man dürfe Schlepper nicht ermuntern, die Migranten sich selbst zu überlassen in der Hoffnung, gerettet zu werden. Einige in der Fraktion verstehen das als Kritik an Seehofer. Andere berichten, Herrmann habe Seehofers Namen vor allem genannt, als er ihm für die Verlängerung der Grenzkontrollen dankte.

Öffentlich will auch Herrmann nichts sagen. Er ist nicht erst seit dem Flüchtlingsstreit fest davon überzeugt, welch selbstzerstörerische Kraft solche Diskussionen entfalten können. Zugleich hat er klargestellt, dass die Größenordnung von Bootsflüchtlingen niemanden besorgen müsse, solange es bei solchen Zahlen bleibe.

Weshalb also hyperventiliert die CSU? Weil die Bundesregierung in 15 Monaten die Aufnahme von 500 Mittelmeerflüchtlingen prüft (währenddessen gut 200 000 andere Asylanträge bearbeitet werden)? Weil Seehofer darüber spricht? Oder geht es vielleicht doch um andere Dinge?

Volksbegehren zum Artenschutz, Klimakonzept, das Plädoyer von CSU-Vize Manfred Weber für Schwarz-Grün als bundespolitisches Zukunftsmodell: Viele CSUler kommen mit dem Krötenschlucken gar nicht mehr hinterher. Einige fordern sogar noch mehr Tempo, wolle man den Grünen die Themen entwinden. Andere bremsen, damit AfD und Freie Wähler nicht zu viel Freiraum bekämen. Kenner behaupten, gut die Hälfte der Landtagsfraktion hadere bis heute mit Söders Verwandlung zum Umweltengel. Weil man gegen den neuen Chef aber nicht aufbegehren könne, brauche es ein anderes Ventil. Mutet die CSU ihren Mitgliedern im Moment zu viel zu?

Nein, findet Theo Waigel. Natürlich müsse die CSU auf den Paradigmenwechsel in Politik und Gesellschaft reagieren. "Mit der Welt von gestern kann man die Zukunft nicht gewinnen", sagt Waigel, da liege Söder völlig richtig. Der CSU-Ehrenvorsitzende denkt in langen Linien, ihn erschreckt so leicht nichts mehr, war ja irgendwie alles schon mal da in der CSU.

In den Fünfzigerjahren, sagt Waigel, da habe es dieses Duell doch auch gegeben: hier die Traditionalisten um Alois Hundhammer, da die Modernisten um Franz Josef Strauß und Josef Müller. "Und, die Modernisten hatten recht." Waigels Verhältnis zu Seehofer war schon mal besser, jetzt aber rät er seiner CSU: "Ich würde mich mit Kritik an Seehofer zurückhalten." Natürlich dürfe man keine falschen Anreize setzen. Aber Menschen in Todesnot zu retten, was solle daran bitte falsch sein?

Die CSU kennt sich aus mit Symboldebatten

Die CSU kennt sich aus mit Symboldebatten. Vor gut einem Jahr hat sie mit der Frage, ob man in anderen EU-Ländern registrierte Flüchtlinge an der Grenze zurückweisen soll, die Bundesregierung beinahe zur Implosion gebracht. Damals ging es darum, ob ein paar Dutzend Menschen nicht ins Land dürfen. Jetzt geht es darum, ob ein paar Dutzend Menschen ins Land dürfen. Darüber kann man gewiss ins Grübeln geraten. Dass man Notleidende retten müsse, das sagen im Grunde alle in der CSU. Nur wenige denken aber, dass man darüber so ausführlich sprechen muss wie Seehofer. Der Horst arbeite jetzt halt an seinem Bild für die Geschichtsbücher, sagen Parteikollegen, er wolle nicht als rüpelhafter Flüchtlingskämpfer in Erinnerung bleiben. Menschlich sei das verständlich.

Gelobt vom Gegner, gerüffelt von der eigenen Partei - Seehofer kennt das. Dennoch dürfte es sich komisch anfühlen, wenn etwa Andrea Lindholz, die Vorsitzende im Innenausschuss von der CSU, ihrem Minister die Empfehlung angedeihen lässt: "Das ist keine vorausschauende Migrationspolitik." Oder wenn Parteifreunde raunen, dass Seehofer sich über den Ärger nicht zu wundern brauche, wo er doch die eigenen Gremien konsequent meide.

Ein Telefonat mit Horst Seehofer, wie das nun ist mit seiner allumfassenden Altersmilde. Seehofer sagt: "Ich kann nur sagen, das ist großer Quatsch."

Als er Innenminister wurde, nahm er sich einen SPD-Mann zum Vorbild. Wie Otto Schily wollte er sein, hart und gerecht, Prediger von Law and Order. So gesehen findet der Politiker Seehofer, dass der Innenminister Seehofer sich nicht schlecht anstellt: "null Toleranz bei Kriminalität, alle Ziele bei der Migration total erreicht, weit unter der Obergrenze, Heimatstrategie, das größte Wohnungsbauprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik" - sonst noch was? Die Arbeitskreise der Union besuche er regelmäßig, erst diese Woche hätten ihn die Innenpolitiker mit Beifall verabschiedet. Am Freitag sprach er im Innenausschuss zur Seenotrettung: "Ohne jedes Problem, im Gegenteil."

In die Fraktion und Landesgruppe geht Seehofer allerdings nur, wenn eines seiner Themen ansteht. Denn das habe er sich eisern vorgenommen: keine Aussagen zur Alltagspolitik, um Missverständnisse mit den Nachfolgern zu vermeiden. "Das ist doch in den letzten eineinhalb Jahren mit Markus Söder perfekt gelaufen."

Die Kritik zur Seenotrettung hat Seehofer nicht sonderlich beeindruckt, Parteifreunden spendiert er gerne eine kleine Rechenstunde: fünfhundert Bootsflüchtlinge in 15 Monaten, davon noch nicht mal die Hälfte im Land. "Das ist eigentlich eine Petitesse." Insgesamt seien in Deutschland in den ersten acht Monaten 98 000 Asylbewerber angekommen, bis Jahresende rechnet Seehofer höchstens mit 150 000 - deutlich unter der Obergrenze von 180 000. Und sollten die Zahlen der Bootsflüchtlinge wider Erwarten erheblich ansteigen, könne er den Notfallmechanismus jederzeit aufkündigen. Warum also die Aufregung, "ich verstehe es einfach nicht".

Wenn Seehofer heute vom solidarischen Beitrag Deutschlands spricht, Menschen vor dem Ertrinken zu retten und andere Länder zu entlasten, klingt er fast wie Angela Merkel. Oder wenn er sagt, dass man nach einer großen europäischen Lösung gar nicht erst zu suchen brauche, wenn man nicht mal die Sache mit den Bootsflüchtlingen schaffe. Ist das derselbe Innenminister wie vor gut einem Jahr?

Sehr wohl, findet Seehofer. Ziel bleibe immer die Begrenzung der Flüchtlingszahlen auf der Grundlage von Humanität und Ordnung. "Wir brauchen dringender denn je eine gemeinsame europäische Asylpolitik, wenn wir 2015 vermeiden wollen." Seehofer sieht ein historisches Zeitfenster, daher hielte er es auch für einen "schweren Fehler", die "sehr vernünftige neue Regierung in Italien" nicht zu unterstützen. Abgesehen davon wäre eine andere Position als seine für die CSU doch gar nicht durchzuhalten. Sollte der europäische Außengrenzschutz eines Tages funktionieren, müsse Deutschland ohnehin 22 Prozent aller Flüchtlinge aufnehmen.

Und Dinge zu tun, aber nicht darüber zu reden - da müsse er sich doch sehr wundern, sagt Seehofer: "So geht Politik in unserer Zeit nicht."

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