Hans-Jochen Vogel über die Bodenfrage:Preissteigerung um 39 390 Prozent

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Häuser der Bayerischen Hausbau am Nockherberg in München werten das Viertel auf, und die Bodenpreise steigen weiter. (Foto: Bayerische Hausbau)
  • Der frühere SPD-Chef Hans-Jochen Vogel fordert in einem Manifest: Der Boden bedarf einer neuen Ordnung.
  • Ähnliches hatte Vogel als Oberbürgermeister von München schon vor einem halben Jahrhundert gefordert, weshalb er heute als Visionär gilt.
  • Man muss Zweifel haben, dass die heute politisch Verantwortlichen dem weisen Senior zuhören - entscheidende Vorschläge Vogels hat die große Koalition nicht übernommen.

Von Bernd Kastner

Dieses Buch ist ein Armutszeugnis, nichts anderes. Ein Mann im 94. Lebensjahr muss den verantwortlichen Politikern erklären, was sie tun müssten, um eines der drängendsten sozialen und strukturellen Probleme des Landes anzugehen. Damit die Menschen in Deutschland einen angemessenen Platz zum Wohnen finden. Hans-Jochen Vogel hat sich vor Jahrzehnten aus der Tagespolitik zurückgezogen, lebt in einem Münchner Seniorenheim und hat noch einmal ein Buch geschrieben. "Mehr Gerechtigkeit!" lautet der Titel. Was nichts anderes heißt, als dass es an Gerechtigkeit mangelt. Zu viele Menschen wissen nicht mehr, wo sie eine bezahlbare Wohnung finden sollen, gerade in den Boom-Ballungsräumen, weil ein paar wenige Mitbürger, genannt Spekulanten, mit freundlicher Unterstützung des Staates den großen Reibach machen. Das liege, so lautet Vogels Analyse, an der Bodenpolitik.

Es ist das Ausrufezeichen im Titel, das darauf hindeutet, wie sehr den ehemaligen SPD-Chef und Bundesminister das Thema umtreibt. Das Zeugnis, das er den Regierungen der letzten Jahrzehnte ausstellt, könnte man so zusammenfassen: Bemüht haben sie sich, aber das ist lange her und blieb ohne Erfolg. Locker und leicht liest sich dieses Zeugnis nicht. Das Buch ist etwas für Freunde verwaltungsjuristischer Termini und Prozesse. Allein, Vogels Analyse ist unmissverständlich und seine Forderung fast schon revolutionär: Der Boden bedarf einer neuen Ordnung.

So wenig die Bodenfrage in der aktuellen politischen Debatte präsent ist, so sehr ist es für Vogel ein altes Thema: Ähnliches hat er schon vor einem halben Jahrhundert gesagt und gefordert, weshalb er heute als Visionär gilt. Zu Beginn der 70er, da war Vogel noch Oberbürgermeister in München, hat er den Kampf gegen steigende Wohnkosten und Spekulation auf die politische Agenda gehoben. Es war die Zeit der Olympischen Spiele, als München der Sprung in die Moderne gelang. Wenig später, als Vogel dem Kabinett von Willy Brandt als Minister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau angehörte und später für Justiz, machte er aus seinen Ideen eine Gesetzesinitiative, parallel diskutierte die SPD darüber. Nach langer Debatte beschloss der Bundestag eine Novelle zum Baugesetz, die aufgrund der Intervention zunächst des SPD-Partners FDP und dann im Bundesrat der Union so verwässert wurde, dass sie die Misere kaum linderte. Anschließend verloren auch die SPD und Vogel, von 1987 bis 1991 Parteichef, die Lust am Thema, was er knapp, aber selbstkritisch einräumt.

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So dauerte es bis vor ein paar Jahren, ehe sich abermals in München, Deutschlands teuerster Stadt, eine Gruppe wohnungspolitischer Akteure fand, um sich grundlegende Gedanken zu machen. Dazu gehört Christian Stupka, einer der klügsten Vordenker in der Genossenschaftsszene, der viel Energie in eine Bodenreform steckt. Er und seine Mitstreiter aus der eher alternativen Bauszene kramten alte Aufsätze und Gesetzesentwürfe aus den Archiven, kontaktierten deren Urheber Vogel und gewannen ihn als Mitstreiter in seiner alten Sache. So ist der heute körperlich gebrechliche, aber ansonsten topfitte SPD-Grandseigneur zum Motor einer neuen Initiative geworden, die auch vom Ausland lernen will, von Wien zum Beispiel oder von Basel. Die Schweiz ist schon weiter, wie sich in dem aktuellen Sammelband "Boden behalten - Stadt gestalten" ( Rüffer & Rub Verlag) nachlesen lässt, er beschäftigt sich vor allem mit der Basler "Bodeninitiative". Auch der von Florian Hertweck herausgegebene Band "Architektur auf gemeinsamem Boden. Positionen und Modelle zur Bodenfrage" ( Lars Müller Publishers) schaut über die Grenzen. Ein Thema bricht sich Bahn, aber ganz langsam.

Man kann Politikerreden aus den Siebzigerjahren vorlesen, um den Status quo 2019 darzustellen

Vogel blickt zunächst zurück und stellt fest, dass man so manche Politikerrede von einst heute vorlesen kann, um den Status quo 2019 darzustellen: "Die Mieten steigen. (...) Die Eigentumsbildung wird zum Spekulationsobjekt. (...) Ungeschminkt ausgedrückt: eine verschwindend kleine Minderheit wurde durch diese Entwicklung maßlos reich. Wir Normalbürger finanzieren diese Millionengewinne durch Steuern und durch Verzicht auf dringende Einrichtungen der Daseinsvorsorge." Boden werde "gehandelt wie Ware in einem Krämerladen". Es sei "höchste Zeit, das Eigentum an Grund und Boden im Sinne des Grundgesetzes einer echten Sozialbindung näherzuführen. Um Wucher und Bodenspekulation zu bekämpfen, muss dem Boden seine privilegierte Funktion als Anlagegut mit risikoloser Gewinnchance endlich genommen werden."

Das hat 1970 im Münchner Stadtrat Werner Veigel vorgetragen, er war Vogels zuständiger Rathausminister. Der Stadtrat fasste einen Beschluss, aus dem der Kern eines Bundesgesetzes werden sollte (aber nicht wurde). Schon damals gab man zu Protokoll, wie ungerecht es sei, dass ein privater Grundeigentümer zwar entschädigt werden muss, wenn kommunale Planung den Wert seines Bodens mindert. Dass derselbe Eigentümer aber allen Gewinn behalten darf, wenn eben diese Planung den Wert seines Grunds steigert. "Leistungsloser Bodengewinn" lautet einer der Schlüsselbegriffe in Vogels Analyse: Da werden ein paar wenige Grundeigentümer reich, weil die Kommune Infrastruktur schafft, Straßen oder U-Bahnen. So steigt der Wert der umliegenden Flächen, was direkt auf die Mieten durchschlägt.

So ungerecht ging es vor 50 Jahren zu; so ungerecht geht es noch heute zu. Vogel hat in den Archiven die passenden Zahlen rausgesucht: In München macht der Anteil für den Boden heute fast 80 Prozent der Neubaukosten einer Wohnung aus. Bundesweit sind die Baulandpreise seit 1962 um 2308 Prozent gestiegen; in München seit 1950 gar um 39 390 Prozent. "Es erstaunt mich", schreibt Vogel, dass diese Zahlen "so gut wie keine öffentlichen Protestbewegungen und bisher auch keinen Medienaufruhr verursacht haben." Und das, obwohl Artikel 14 Grundgesetz bekanntlich postuliert: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen."

Was tun? Die Bundesregierung versucht es seit Jahren mit einer Mietenbremse, die aber kaum bremst. In Berlin fordert eine Initiative die Enteignung großer Immobilienbesitzer, und der Senat hat den Mietendeckel beschlossen. Selbst wenn diese Vorstöße vor den Gerichten bestehen, das Grundübel werden sie nicht beseitigen.

"Grund und Boden ist keine beliebige Ware, sondern eine Grundvoraussetzung menschlicher Existenz"

Vogels Modell basiert auf seiner "Grundeinsicht": "Grund und Boden ist keine beliebige Ware, sondern eine Grundvoraussetzung menschlicher Existenz. Boden ist unvermehrbar und unverzichtbar. Er darf daher nicht dem unübersehbaren Spiel der Marktkräfte und dem Belieben des Einzelnen überlassen werden." Er will Grund und Boden wegen seines besonderen Charakters, vergleichbar mit Luft und Wasser, "den sozialen Regeln des Allgemeinwohls" unterstellen. Dabei weiß er das Bundesverfassungsgericht auf seiner Seite, das sich bereits 1967 "für die Interessen der Allgemeinheit beim Boden" starkgemacht und dies später mehrfach wiederholt hat.

Die Kernelemente des Vogel'schen Gerechtigkeitsplans lassen sich so skizzieren: Die Gemeinden sollten sich bemühen, Grund und Boden zuzukaufen; auf keinen Fall sollen sie Boden jemals mehr verkaufen dürfen. Wenn sie ihn jemandem überlassen, dann nur im Erbbaurecht, sodass er irgendwann an die Kommune zurückfällt. Der Bund sollte Flächen, die er nicht mehr braucht, verbilligt oder kostenlos an die Gemeinden geben. Die Spekulationsfrist von zehn Jahren müsse fallen: Hat ein Privatier vor zehn Jahren eine Immobilie gekauft und verkauft sie jetzt mit Millionengewinn, zahlt er darauf keine Steuer. Schließlich will Vogel die "leistungslosen Gewinne" der Grundeigentümer abschöpfen lassen, zugunsten der Gemeinden, die so günstigen Wohnraum schaffen sollen. "Planungswertausgleich", nennt er das.

Was noch fehlt? Dass die heute politisch Verantwortlichen dem weisen Senior zuhören und seine Ideen ernst nehmen. Daran aber muss man Zweifel haben: Die aktuelle große Koalition hat zwar eine Baulandkommission eingerichtet, und Vogel hat sie mit seinen Vorschlägen gefüttert. Entscheidendes aber hat sie nicht übernommen, zum Beispiel den "Planungswertausgleich". Dabei könnten die Koalitionäre bei ihren jeweiligen Lichtgestalten nachlesen. "Es gibt keinen Zweifel", hat Willy Brandt 1974 zum Bodenrecht geschrieben, "dass hier eine der fundamentalen Reformen zur Erleichterung und Humanisierung unseres Zusammenlebens lange überständig ist." Und Konrad Adenauer hat vor fast 100 Jahren gesagt, da war er OB von Köln: "Die bodenreformerischen Fragen sind nach meiner Überzeugung Fragen der höchsten Sittlichkeit. Es nützt Ihnen alles nichts (...), wenn Sie nicht das Übel an der Wurzel fassen."

Hans-Jochen Vogel: Mehr Gerechtigkeit! Herder Verlag, Freiburg 2019. 80 Seiten, 12 Euro.

© SZ vom 18.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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