Sterbehilfe-Urteil:"Der Lebensschutz wiegt nichts"

Sterbehilfe Urteil

Menschen, die sterben wollen, müssen das grundsätzlich auch dürfen, urteilte das Bundesverfassungsgericht im Februar.

(Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Warum der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, der evangelische Theologe Peter Dabrock, das Karlsruher Sterbehilfe-Urteil als radikalen Bruch mit der bisherigen Rechtskultur ablehnt.

Interview von Matthias Drobinski

Peter Dabrock, 55, ist evangelischer Theologe, Ethik-Professor in Erlangen und Vorsitzender des Deutschen Ethikrats.

SZ: Herr Professor Dabrock, das Verfassungsgericht betont in seinem Sterbehilfe-Urteil die Freiheit, sich das Leben zu nehmen und "hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen". Wer sterben möchte, muss sich nicht mehr vor den Zug werfen oder eine Pistole besorgen - wo ist das Problem?

Dabrock: Das Verfassungsgericht hat hier ein problematisches Narrativ übernommen: dass es nur die Alternative zwischen Qualtod und Brutalsuizid auf der einen Seite und dem heroischen Freitod auf der anderen gibt. Fast jeder, der Menschen betreut, die überlegen, sich zu töten, sagt, dass das ein Konstrukt ist, eine Ideologie. Sterbewünsche sind ambivalent, widersprüchlich, ändern sich. Deshalb braucht es eine Balance aus der Freiheit, in letzter Konsequenz den Tod wählen zu können, und dem Schutz des Lebens. Der assistierte Suizid war bislang - zu Recht - in Grenzsituationen erlaubt. Das Verfassungsgericht normalisiert ihn und macht ihn gewissermaßen zum Jedermannsrecht.

Es stehen im Urteil durchaus auch Argumente gegen die Normalisierung des assistierten Suizids. Sind Sie da nicht zu hart?

Leider nein. Das Gericht führt das alles an. Es sagt sogar, die Angst vor der gesellschaftlichen Normalisierung des Suizids sei nachvollziehbar. Aber diese Besorgnisse werden in der Urteilsabwägung angesichts eines völlig überhöhten Autonomiebegriffs nicht mehr berücksichtigt. Der Lebensschutz wiegt nichts. Die Waage neigt sich bis zum Anschlag in Richtung uneingeschränkter Autonomie.

Was ist, wenn in einigen Jahren das Gesundheitswesen unbezahlbar erscheint

Selbstbestimmung ist relational - der Satz steht immerhin im Urteil.

Aber er bleibt folgenlos. Es steht allein das Recht, sich töten zu können, im Vordergrund. Suizidprävention begrüßt das Gericht zwar. Aber alle Ängste, Nöte, Sorgen derer, die eine Normalisierung des Suizids bedrängend finden, spielen keine Rolle. Ich fand es richtig, dass das Recht auf assistierten Suizid bislang ein Abwehrrecht war, ein Schutz vor unerträglicher Qual am Lebensende. Das Verfassungsgericht aber macht daraus ein Anspruchsrecht auf Verwirklichung: Suizid unproblematisch realisieren zu können, wird vom Verfassungsgericht geradezu als Besiegelung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und damit der Menschenwürde ausgelegt. Das verkehrt alles, was das Gericht bislang über Menschenwürde gesagt hat. Es ist ein radikaler Bruch mit der bewährten Rechtskultur, die Selbstbestimmung achtet und schützt, aber immer auch lebensschutzfreundlich ausgelegt hat.

Ein 18-Jähriger mit Liebeskummer, gemobbt und ohne Lehrstelle, sagt: Ich will ernsthaft nicht mehr leben - und sucht sich einen Sterbehilfeverein. Wäre das durch das Urteil gedeckt?

Ja. Es sagt ausdrücklich, das Recht auf selbstbestimmtes Sterben könne nicht auf schwere Krankheitszustände und bestimmte Lebensphasen eingeschränkt werden, es bestehe "in jeder Phase menschlicher Existenz". Das Verfassungsgericht legt dann dem Gesetzgeber nahe, Prozeduren zu entwickeln, um die Ernsthaftigkeit eines solchen Wunsches zu prüfen und die Seriosität einer Sterbehilfeorganisation. Aber grundsätzlich gilt: Das Verwirklichungsrecht des jungen Mannes auf assistierten Suizid darf nicht beeinträchtigt werden. Wollen wir, dass unsere Rechtsordnung so schrankenlos ist?

dpa Story - Peter Dabrock

Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrats, wirft dem Verfassungsgericht eine Fehlentscheidung vor.

(Foto: Lisa Ducret/picture alliance/dpa)

Was muss jetzt aus Ihrer Sicht der Gesetzgeber tun?

Er wird Sterbehilfevereine erlauben müssen, auch wenn 2015 die übergroße Mehrheit im Bundestag dagegen war. Aber er kann auf die juristische Entgrenzung sozialpolitisch antworten. Er muss eine flächendeckende Palliativversorgung schaffen, muss die Pflege kranker Menschen verbessern, er muss eine Kultur des Miteinanders fördern, die Menschen weniger einsam sein lässt. Er muss alles tun, damit möglichst wenige Menschen sagen: Was bleibt mir anderes übrig, als in Verzweiflung meinem Leben ein Ende zu setzen? In dieser Hinsicht ist das Urteil auch eine Chance: Es fordert eine politische und gesellschaftliche Antwort heraus.

Eine Garantie gibt es da nicht.

Nein, die gibt es nicht. Was ist, wenn in einigen Jahren das Gesundheitswesen unbezahlbar erscheint, weil eine Wirtschaftskrise und der demografische Wandel zusammentreffen? Dann könnten Politik und Gesellschaft sich auch entscheiden, an der teuren Pflege, der Betreuung von Hochbetagten und schwer Kranken zu sparen - für die gibt es ja einen Ausweg. Es könnte der Druck auf die Armen und Hoffnungslosen steigen, ihrer Armut und Hoffnungslosigkeit ein Ende zu bereiten; Schutz vom Verfassungsgericht hätten sie nicht mehr. Im Übrigen dürfte nach diesem Urteil die Grenze zwischen assistiertem Suizid und Töten auf Verlangen kaum noch zu halten sein: Wenn jeder Sterbenswillige einen Anspruch aufs tödliche Medikament hat - warum soll man dann dem Gelähmten verweigern, dass der Arzt ihm eine tödliche Spritze setzt?

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