OECD-Chef Angel Gurría:"Hinter der Corona-Krise lauert die politische Krise"

Daily Life In New York City Amid Coronavirus Outbreak

Riskanter Weg: Ein Mann mit Schutzmaske geht in New York an einer bemalten Fassade entlang.

(Foto: Cindy Ord/AFP)

In vielen Ländern drohen wegen der beginnenden Rezession soziale Verwerfungen, warnt OECD-Chef Angel Gurría. Deutschland fordert er dazu auf, den Widerstand gegen Euro-Anleihen aufzugeben.

Interview von Leo Klimm, Paris

Schon seit einem Monat geht Angel Gurría kaum aus dem Haus. Erst durfte er nicht hinaus, weil es in seinem Umfeld einen frühen Coronavirus-Fall gab. Als seine Quarantäne dann vorbei war, galten auf einmal strenge Ausgangsbeschränkungen, an die sich auch der Chef der in Paris ansässigen Industriestaatenorganisation OECD halten muss. Und die Pandemie ist Gurría zufolge nur der Anfang einer langen Zeit der Entbehrungen. Angesichts der schweren Krise, die nun beginnt, verlangt der OECD-Generalsekretär mehr Solidarität - besonders von Deutschland.

SZ: Herr Gurría, Sie fordern einen "New Deal", um die Weltwirtschaft von der Corona-Krise zu heilen. Der New Deal war einst die US-Antwort auf die verheerende Krise von 1929. Ist die Lage so schlimm?

Angel Gurría: Die Ursachen und Umstände waren damals andere. Die Welt ist heute viel stärker vernetzt, die Möglichkeiten zur Bekämpfung der Krise sind allerdings auch besser. Dass eine Rezession bevorsteht, bezweifelt keiner. Eine Depression wie 1929 droht uns derzeit nicht.

OECD Forum

Angel Gurría, 69, leitet seit 2006 die OECD. Die Organisation berät ihre 36 Mitgliedstaaten in Wirtschaftsfragen und in der Sozialpolitik. Seiner Heimat Mexiko diente Gurría einst als Außen- und als Finanzminister.

(Foto: Zoltan Balogh/dpa)

Warum spielen Sie dann darauf an?

Wir brauchen eine Vision für den Wiederaufbau, wie sie der New Deal vermittelte. Das Virus muss mit allen verfügbaren Mitteln bekämpft werden, so wie das in vielen Ländern geschieht. Gleichzeitig müssen die Regierungen so viele Jobs und Unternehmen wie möglich vor den Folgen des erzwungenen Stillstands bewahren. In vielen Ländern brechen 40 Prozent der Wirtschaftsleistung weg.

Gibt es eine Chance, so rasch aus der Krise zu kommen, wie wir hineingeraten sind?

Leider nicht. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Virus werden uns viel länger beschäftigen als das Virus selbst. Mindestens dieses Jahr und das nächste. Diese Krise wird härter und zerstörerischer als die Finanzkrise von 2008. Der Konjunkturverlauf wird, grafisch gedacht, keine V-Form haben, sondern eher einem U gleichen. Und dabei müssen wir alles tun, dass er keine L-Form annimmt, dass wir also gar nicht mehr aus dem Tief herauskommen. Schon vor der Corona-Krise war die Weltwirtschaft ja im Abschwung. Die Lage ist dramatisch.

Der Corona-Kampf steigert die Staatsverschuldung enorm - eine Last in der Zukunft. Wird die jüngere Generation dem Virus geopfert?

Wir opfern keine Generation. Wir retten sie. Millionen Menschen Krankheit und Tod auszusetzen ist keine Alternative. Großbritannien musste das Experiment mit der Herdenimmunität abbrechen, weil es in einer Demokratie schlicht nicht vertretbar ist. Niemand kann akzeptieren, zur Ansteckung mit dem Coronavirus verurteilt zu werden. Immerhin: Die Pharma-Labore arbeiten mit Nachdruck an einem Impfstoff, um die nächste Infektionswelle zu parieren. Es war ein großer Fehler, nach der Sars-Epidemie von 2003 die Entwicklung eines Impfstoffs zu stoppen.

Läutet die Pandemie das Ende der liberalen Doktrin offener Grenzen und des Freihandels ein? Die Globalisierung hat es dem Virus leicht gemacht.

Im Gegenteil. Die Krise lehrt uns, dass wir mehr internationale Zusammenarbeit brauchen. Das bedeutet auch: Jedes Land muss Transparenz walten lassen. In China gab es am Anfang der Epidemie offenbar Probleme damit, dass Informationen über die Entwicklung nicht korrekt weitergegeben wurden. Wertvolle Wochen gingen so verloren.

Muss die Lektion nicht lauten: Strategisch wichtige Güter, etwa medizinische, müssen im eigenen Land produziert werden?

In manchen strategischen Industrien mögen kürzere Wege angebracht sein. Doch Abgesänge auf die Globalisierung sind fehl am Platz. Nehmen wir die Elektronikindustrie, deren Erzeugnisse wir ständig nutzen: Sie funktioniert nur dank einer weltweiten Arbeitsteilung, in der jeder seinen komparativen Vorteil nutzt. Anstatt Wertschöpfungsketten zu zerstören, sollten wir die Integration der Weltwirtschaft beschleunigen und die Handelsschranken wieder einreißen, die in den vergangenen zwei Jahren aufgebaut wurden. Auch sie kosten Wachstum. Versuche von Staaten, sich zu Selbstversorgern zurückzuentwickeln, werden keinen Erfolg haben.

Durch die Krise sind auch in reichen Ländern viele von Armut bedroht. Sollte es im Moment nicht ums Soziale gehen anstatt ums Geschäft?

Der soziale Zusammenhalt sollte jetzt im Mittelpunkt stehen. Die Ungleichheiten drohen weiter zu wachsen, weil sich Menschen mit Vermögen besser vor dem Virus und seinen Folgen schützen können als die Schwächeren. Die Hälfte der Mitglieder der Mittelschicht in den OECD-Staaten fällt nach nur drei Monaten ohne Lohn aus der Mittelschicht heraus. Deswegen ist das deutsche Modell der Kurzarbeit so wertvoll. Hinter der Corona-Krise lauert die politische Krise. Produziert sie zu viele Verlierer, steigt die in vielen Industriestaaten ohnehin schon hohe Unzufriedenheit weiter.

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Die Bundesregierung und andere reiche Staaten geben viele Milliarden zur Krisenbekämpfung aus. Genügt das?

Es ist zu früh, das zu beurteilen. Das wichtigste Signal war, dass Notenbanken wie die Europäische Zentralbank Geld in den Markt pumpen. Die Finanzmärkte sind aber noch nicht beruhigt, im Moment fehlt das Vertrauen. Vielleicht ist es also noch nicht genug.

Die Staaten der Euro-Zone streiten um gemeinsame Gemeinschaftsanleihen, sogenannte Corona-Bonds. Damit könnten hoch verschuldete Staaten wie Italien, die hart von der Pandemie betroffen sind, von der deutschen Kreditbonität profitieren. Eine gute Idee?

Ich bin absolut dafür. Finanzrisiken zu teilen, ist der nächste notwendige Schritt der europäischen Integration. Die Corona-Krise konfrontiert die Euro-Staaten schonungslos mit der Frage, ob sie zu mehr Europa bereit sind. Wobei ich es legitim finde, wenn diese Form der Hilfe mit politischen Auflagen verknüpft wird.

Sollte es keine Einigung geben: Bedeutet dies das Ende der Euro-Zone, weil sich Italien die Währungsunion nicht mehr leisten kann?

Geht es etwas weniger dramatisch? Ein Finanzinstrument sollte keine Glaubensfrage sein. Man sollte solche Anleihen pragmatisch sehen: als nützliches, machtvolles und effizientes Mittel, das Risiken verteilt. Funktioniert es, spart es Kosten. Funktioniert es nicht, muss es eben nachgebessert werden. Die Euro-Staaten, die jetzt skeptisch sind, müssen sich eines bewusst machen: Es ist in ihrem Interesse, dass alle Euro-Länder stabil sind und ihren Wohlstand halten. Dann kaufen sie auch mehr, etwa von Deutschland. Dafür, dass Deutschland anderen ein bisschen von seiner Kreditwürdigkeit leiht, bekommt es viel zurück. Und das Signal an den Rest der Welt wäre: Europa ist stark.

Die Corona-Krise beschleunigt die Digitalisierung. Die OECD-Staaten verhandeln schon lange über eine Mindeststeuer für Internetkonzerne wie Amazon und Google, das soll Steuervermeidung unterbinden. Wann gibt es Ergebnisse?

Ich strebe eine Grundsatzeinigung Anfang Juli an. In der Corona-Krise wachsen die Staatsschulden. Viele Regierungen werden sich also nach Einnahmemöglichkeiten umsehen - und ihren fairen Teil von den Digitalkonzernen haben wollen.

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