Tanz und Schauspiel:Theater frei Haus

Staatstheater Augsburg 360 Grad Judas Shifting Perspective

Neue Sichtweisen: Beim Tanzstück "Shifting_Perspective" sitzt man als Zuschauer mitten auf der Bühne.

(Foto: Heimspiel GmbH)

Durch einen Glücksfall verfügt das Staatstheater Augsburg gerade über die Technik für Virtual Reality. Nun können sich Augsburger zwei eigens dafür produzierte Inszenierungen auf VR-Brille liefern lassen. Der Effekt ist überraschend großartig

Von Rita Argauer und Klaus Kalchschmid

Ein Mensch kommt auf Dich zu. Immer näher. Er neigt sich nach vorne. Sein Kopf kommt Deinem näher. Folgt da eine Umarmung, gar ein Kuss? Wie ein Geist gleitet der Körper aber durch einen hindurch. Es bleibt Gänsehaut. Vor allem derzeit, wo unvorhersehbare Berührungen durch die corona-bedingte Tabuisierung fast etwas Frivoles haben. Es handelt sich aber hier nicht um einen Porno. Sondern um Theater, genauer um das Ballettstück "Shifting_Perspective", das vom Theater Augsburg auf eine VR-Brille gespielt und samt Brille zu seinem Publikum nach Hause geliefert wird. Für sagenhafte 9 Euro 90, innerhalb Augsburgs.

Dem Theater gelingt mit diesem VR-Brillen-Lieferservice ein großer Coup. Denn immerhin erschaffen die Künstler hier als erstes seit nun schon sieben Wochen wieder ein unbedingtes und physisch zwingendes Theatererlebnis. Dass diese eigens geschaffenen Inszenierungen so schnell umgesetzt werden konnten, verdankt das Theater einem Glücksfall. Denn schon vor Corona experimentierte man dort mit dieser Art der virtuellen Realität. In der für Mitte Mai geplanten Premiere von Glucks "Orfeo" sollten VR-Brillen und virtuelle Versatzstücke Teil der Inszenierung des Live-Opernabends sein. Die technische Infrastruktur war also vor Ort, als Corona das Live-Theater ausschaltete. Sowohl die speziellen Kameras, die in 360-Grad-Winkeln aufzeichnen können als auch die Brillen. Um die technische Realisierung kümmert sich die Augsburger Agentur Heimspiel.

Doch dass das Ballettstück nach dem Konzept von Ricardo Fernando und Carla Silva so blendend funktioniert, hat noch einen anderen Grund. Mit einem normalen Theaterabend, so wie man ihn kennt und so wie man ihn vermisst, hat das nämlich nicht mehr viel zu tun. Denn die Perspektive ist eine völlig andere. Der Zuschauer sitzt virtuell in der Mitte der Bühne, das Bühnengeschehen findet um ihn herum statt. Die Tänzer kommen einzeln, höchstens zu zweit auf die puristische Bühne, jeder hat selbst choreografiert: Zu Beginn gibt es noch recht konventionellen Modern Dance. Doch schon das dritte Solo ist aggressiver und dringt in die virtuelle Komfortzone des Zuschauers ein, und ins Hirn, wenn der Tänzer manisch eine Handwasch-Bewegung imitiert. Es folgen etwa ein gothic-düsteres Damen- und ein prächtig kontrollsüchtiges Herrensolo.

Doch der ungewöhnlichste Moment ist, wenn man sich als Zuschauer plötzlich in Mitten eines Pas de Deux befindet; zwischen den Tanzpartnern. Hier finden dann plötzlich wieder theatrale Momente statt, in denen man sich entscheiden muss, wo man hinschauen soll: Nach vorne zur Tänzerin oder nach hinten zum Tänzer. Beides gleichzeitig geht nicht, hier herrscht keine optimierte Stream-Fernseh-Perspektive, die dem Zuschauer den besten Blick auf alles ermöglichen soll. Hier herrschen Nähe, Entscheidung und Unabdingbarkeit.

Auch die Schauspielsparte in Augsburg profitiert von der VR-Ausstattung des Hauses. So sollte nach der Uraufführung im Sommer 2019 Lot Vekemans Einpersonen-Stück "Judas" in verschiedenen Augsburger Kirchen gezeigt werden. Die erste - und wegen des Corona-Virus vorläufige letzte - Station war die 2016 umfassend restaurierte kleine Goldschmiede-Kapelle der St.-Anna-Kirche. In diesem romanischen Raum mit wunderbaren alten Fresken wurde der gut einstündige, seit Jahren häufig, auch an den Münchner Kammerspielen aufgeführte Monolog der holländischen Autorin nun ohne Publikum als Virtual-Reality-Produktion aufgezeichnet.

Wenn der Schauspieler zu Beginn noch minutenlang mit dem Zuseher witzelt bis er endlich zur Sache kommt, setzt man die klobige VR-Brille, die sich anfangs fast anfühlt wie die ABC-Waffen-Maske der Bundeswehr, gerne mal ab. Dann stoppt das Geschehen automatisch und setzt sich beim Wiederaufsetzen fort. Doch zunehmend wird man in Bann genommen. Denn Schauspieler Roman Pertl lässt Judas, dessen Name heute gleichbedeutend mit feigem Verrat ist, als Mensch in seinem Glauben und seinen Zweifeln, im Reflektieren über Wahrheit und Lüge, Leben und Tod, Freundschaft und Liebe intensiv erfahrbar werden. Der Jünger Jesu ist hier eine tragische Figur, die eigentlich mit seinem Freund Jesus als Zimmermann hätte alt werden wollen.

Judas baut allmählich einen hölzernen Tisch und zwölf weiße Hocker aus Pappe für das Letzte Abendmahl auf und sinniert am Ende darüber, wie es wäre, wenn es gar kein Christentum gäbe; was der Menschheit wohl an Hass und Morden erspart geblieben wäre. Das ist theologisch fragwürdig, aber darum geht es nicht. Denn Roman Pertl ist im grauen Kapuzenpulli mit schwarzer Hose und weißen Sneakers ein junger Mann von heute, dem mal aufbrausend, mal melancholisch, zornig oder sehr sanft ein anrührender Monolog gelingt. Er ist zuletzt deshalb beeindruckend, weil der Schauspieler dem Zuseher, der am Ende gar eine Träne aus seinem rechten Auge fließen sieht, in jeder Hinsicht physisch wie psychisch äußerst nahekommt.

Mit der Brille auf dem Kopf im Drehstuhl wird man zum Teil des Geschehens. Natürlich nur virtuell. Doch selbst diesen Aspekt spiegelt die Digital-Inszenierung, wenn etwa die Tänzerkörper im Video oft leicht transparent sind, durchschimmernd und sich wie Geister auch mal doppeln und ein Körper gleichzeitig zwei verschiedene Choreografien tanzt. Hier wird nichts vorgegaukelt, die Nicht-Anwesenheit der Tänzer wird nicht vertuscht. Und dennoch spürt man Nähe und Intimität. André Bücker, der Augsburger Intendant, will die VR-Produktionen nach Corona übrigens fortführen, dann könnte man sich gegen Gebühr überall auf der Welt ein Stück von der Website auf seine eigene VR-Brille spielen lassen. So oder so sorgt das für neue Perspektiven.

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