Hilfswerk Terre des Hommes:Corona-Krise könnte Millionen Minderjährige in Kinderarbeit zwingen

Hilfswerk Terre des Hommes: In vielen Ländern Afrikas, Südamerikas und Asiens müssen Kinder arbeiten - wie dieser Junge in einer Metallwarenfabrik in Dhaka, Bangladesch.

In vielen Ländern Afrikas, Südamerikas und Asiens müssen Kinder arbeiten - wie dieser Junge in einer Metallwarenfabrik in Dhaka, Bangladesch.

(Foto: A.M. Ahad/AP)

Die Pandemie verstärkt in Entwicklungsländern die Not. Viele Kinder seien "gezwungen, Geld zu verdienen, damit Familien nicht hungern", warnt Terre des Hommes.

Von Christoph Koopmann

Es hat nur wenige Tage gedauert, bis Ravis Familie vor dem Ruin stand. Ende März verkündete die indische Regierung strenge Ausgangsbeschränkungen und Ravis Eltern, von Beruf Putzkraft und Müllsammler, konnten nicht mehr arbeiten. Das wenige, was sie angespart hatten, war kurz danach aufgebraucht. Und die Familie hat Schulden, sie muss eine teure Arztrechnung begleichen. Vor dem Lockdown besuchte Ravi die sechste Klasse einer Schule in einem Armenviertel der Stadt Devanagere im indischen Bundesstaat Karnataka. Seit sie geschlossen ist, muss er das Geld für seine Familie verdienen, er schuftet auf einer Baustelle. Ravi ist zwölf Jahre alt.

Wie er könnten Millionen Minderjährige in Folge der Pandemie in ausbeuterische Arbeitsverhältnisse gezwungen werden. Davor warnt die Kinderrechtsorganisation Terre des Hommes (TdH) in ihrem am Donnerstag vorgestellten Kinderarbeitsreport. TdH und ihre Partnerorganisationen in Simbabwe und Indien haben für den Report Erfahrungen betroffener Kinder und Jugendlicher zusammengetragen, auch Ravis Geschichte.

"Für Millionen Kinder in armen Ländern hat die Corona-Pandemie das Gesicht von Hunger und Ausbeutung", sagt Birte Kötter, Vorstandssprecherin von TdH. Schon vor dem Ausbruch des neuartigen Virus gab es weltweit nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO mehr als 150 Millionen Kinderarbeiter. Insgesamt leben demnach beinahe 400 Millionen Kinder in extremer Armut. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass weitere 66 Millionen durch die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie in Armut abrutschen könnten. Viele seien "gezwungen, Geld zu verdienen, damit Familien nicht hungern", sagt Birte Kötter von TdH.

Die Kinderrechtsorganisation schreibt in ihrem Bericht, sie registriere in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern eine sichtbare Zunahme von Kinderarbeit. Genau beziffern lässt sich das bislang nicht, dafür ist die Entwicklung zu frisch.

Ausgangsbeschränkungen und die Schließung von Geschäften und anderen Einkommensquellen rund um den Globus treffen vor allem Arbeiter im sogenannten informellen Sektor hart - also alle, die etwa ohne Vertrag und soziale Absicherung arbeiten. Zwei Milliarden Menschen weltweit verdienten der ILO zufolge vor der Krise so ihr Geld, die meisten leiden durch die Pandemie unter enormen Einkommenseinbußen. Ihre Kinder sind es, die nun oft auch arbeiten müssen. Gefährdet sind laut dem TdH-Report neben armen auch vernachlässigte Kinder, Straßenkinder, Mädchen, Flüchtlingskinder und Kinder von Migranten, Kinder in Krisengebieten und solche, die ohne Eltern aufwachsen.

Der Anstieg der Kinderarbeit ist laut dem Report in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Südamerikas zu beobachten. "In großen Städten sind offensichtlich mehr Kinder zu sehen, die betteln. Auf Plantagen und Farmen arbeiten Schulkinder mit ihren Eltern. Kinder verkaufen Gemüse oder Obst auf den Straßen", schreibt TdH. Auch würden mehr Minderjährige zur Prostitution gezwungen.

Schulen fallen als Frühwarnsystem weg

Das Problem werde auch dadurch verstärkt, dass mehr als eine Milliarde Kinder weltweit derzeit nicht zur Schule oder in andere Bildungs- und Hilfseinrichtungen gehen können. Diese fielen nun als "Frühwarnsysteme" für drohende Kinderarbeit aus, schreiben die Autoren. "Weder häusliche Gewalt in den Familien noch Versuche von Arbeitsvermittlern oder Geldverleihern, Kinder als Arbeitskräfte zu rekrutieren, fallen auf."

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Terre des Hommes fordert die internationale Gemeinschaft und die nationalen Regierungen auf, sich stärker für die betroffenen Kinder zu engagieren. Man müsse etwa die Familien finanziell unterstützen, um Geldnot und damit Kinderarbeit vorzubeugen. Zudem sollten nicht nur örtliche Behörden und Firmen die Betriebe stärker kontrollieren; auch global agierende Unternehmen müssten ihre Lieferketten strenger kontrollieren, um Kinderarbeit keine Chance zu geben.

Zwar lobt die Organisation das Ende April vorgelegte "Corona-Sofortprogramm", mit dem das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Länder des globalen Südens unterstützt, als "ersten Schritt". Was den Schutz benachteiligter Kinder betrifft, müsse die Bundesregierung jedoch dringend nachsteuern. Tatsächlich kommt das Wort "Kinder" in dem 18-seitigen Dokument, in dem das BMZ sein Sofortprogramm vorstellt, nur ein einziges Mal vor. In ihrem Konjunkturpaket stellt die Bundesregierung zusätzliche drei Milliarden Euro für Entwicklungszusammenarbeit und Hilfsprogramme zur Verfügung.

In Indien können laut Terre des Hommes Geldverleiher die Situation nach wie vor ausnutzen, um Kredite an notleidende Familien zu vergeben. Abbezahlen müssen diese oft Kinder in einer Form illegaler Schuldknechtschaft. Das droht nun auch dem 12-jährigen Ravi. Seine Eltern etwa können dem TdH-Bericht zufolge ihre Schulden bei dem Geldverleiher noch immer nicht zahlen. Umgerechnet drei Euro verdient Ravi pro Tag auf der Baustelle. Das reicht gerade so für Nahrungsmittel.

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