20 Jahre EM 2000:Stunde Null der Rumpelfußballer

Fussball Europameisterschaft 2000 in Belgien Niederlande Portugal Deutschland 3 0 Enttäuschte deut; EM 2000

Erschlafft nach dem totalen Desaster: Deutsche Nationalspieler um Jens Nowotny bei der EM 2000.

(Foto: imago/Horstmüller)

Der Bundestrainer ohne Konzept, seine Elf in "jämmerlicher Verfassung" und eine Zeitenwende im deutschen Fußball: Die völlig verkorkste Euro 2000 wirkt auch am 20. Jahrestag noch nach.

Von Jonas Beckenkamp

Neulich war Jens Nowotny wieder mal im Fernsehen zu sehen, beziehungsweise dann auch wieder nicht, irgendwie hakte die Technik bei der Übertragung von Amazon Prime. Bremen gegen Leverkusen, Montagsspiel in Gespensterzeiten, eine recht trostlose Sache, aber immerhin Nowotny war ja da: als Halbzeit-Experte im Videocall. Als einstiger Abwehrspieler, der gerne mal gut in die Zweikämpfe kam, hätte er sicher einiges zu erzählen gehabt. Nowotny hätte das Bremer Standard-Schlamassel gewiss treffend analysiert, doch er war nur zeitverzögert zu hören. Und irgendwann gar nicht mehr.

Jens Nowotny hat in den Neunziger -und Nullerjahren gute und nicht ganz so gute Zeiten erlebt. Zu den weniger guten zählt die EM 2000, als der DFB mit einem nie für möglich gehaltenen Vorrundenaus alle vorherigen Tiefpunkte unterbot. 20 Jahre ist jene Stunde Null der sogenannten "Rumpelfußballer" (O-Ton Franz Beckenbauer) an diesem Wochenende her, ein schockierendes 0:3 gegen Portugals B-Elf in Rotterdam am 20. Juni 2000 besiegelte die Bundestrainer-Ära Erich Ribbecks. Gleichzeitig gilt der Moment als Zeitenwende, als Übergang vom Früher ins Heute. Als Manndecker fungierte weiland in der Abwehr: Jens Nowotny, damals 26, ein redlicher, aber bei weitem kein schillernder Defensivmann. Aber wer schillerte schon damals, als es schwer war, elf richtig schnittige deutsche Fußballer aufzutreiben?

Natürlich ließe sich aus jener Nationalmannschaft auch jeder andere herausgreifen, der reaktivierte Rekordmann Lothar Matthäus etwa, dessen Wirken als Libero den Libero als solchen ein für allemal als gestrig entpuppte. Wer so spielte wie der DFB, war damals schon nicht mehr cool. Und Deutschland spielte mit einem 39-jährigen Libero, angestellt bei den New York Metro Stars ("I look not back, I look front"). Oder die Stürmer Carsten Jancker und Paulo Rink, deren wunderliche DFB-Karrieren wie Relikte aus dem Pleistozän ins Jetzt durchschimmern. Haben diese rustikalen, der Verlegenheit entsprungenen Fußballspieler wirklich an einer Euro mitgewirkt?

Es waren eben bleierne Tage für den deutschen Fußball. Icke Häßler galt als zu alt, Sebastian Deisler als zu jung, Michael Ballack war gezeichnet von seinem Eigentor in Unterhaching, das Leverkusen die Meisterschaft gekostet hatte. Auch Marko Rehmer oder Dariusz Wosz standen im Kader - Fußballspieler für vieles, aber nicht für dieses Level. Es waren so dermaßen andere Zeiten, dass man es angesichts des aktuellen Potenzials deutscher Jungfußballer kaum glauben mag. Gleich zum Auftakt rettete lediglich ein Schuss von Mehmet Scholl die deutsche Elf vor einer Blamage gegen Rumänien.

Das 1:1 in Lüttich lieferte eine kleine Werkschau des Unvermögens beim Titelverteidiger. Deutschland rumpelte, während andere - wie Franzosen, Holländer oder Portugiesen - die Leichtigkeit der Zukunft zelebrierten. Im Jahr 2000 herrschte in der Welt noch Aufbruchsstimmung. Zur Loveparade tanzten über eine Million Raver coronafrei durch Berlin, mit Rot-Grün schwebte die Republik über eine Rinderseuche namens BSE hinweg und im Fußball regierten Verfechter der Schönheit wie Zinedine Zidane. Deutschland hatte keinen Zidane, es hatte seinen einzigen Akteur von internationalem Format in Dietmar Hamann, der beim FC Liverpool dem Kick and Rush frönte.

Teamchef Ribbeck hatte es während der verkorksten Vorbereitung versäumt, ein Gefüge mit klaren Strukturen aufzubauen. Und weil niemand wusste wer, wann und wo, machten einfach alle irgendwie. Nicht einmal der Glaube an Deutschland als Turniermannschaft wollte sich entfachen. Das Fachblatt Kicker berichtete sogar von einer Meuterei kurz vor Turnierbeginn, die nur knapp scheiterte: Eine Fraktion aus Münchnern und Leverkusenern soll sich Lothar Matthäus als Übergangstrainer (bzw. "Übergangsdrainer") gewünscht haben, während Jens Jeremies sich in einer Mannschaft in "jämmerlicher Verfassung" wähnte.

Bierhoff schimpft, Kahn schämt sich

Ins allgemeine Drunter und Drüber passte eine verheerende Organisation des Verbandes. So musste die Nationalelf vor dem zweiten Gruppenspiel gegen England etwa auf Geheiß des DFB-Präsidenten Egidius Braun auf einem Dorfplatz nahe Aachen trainieren. Eine Show-Einheit vor 8000 Zuschauern, manche nannten es "Kirmestraining" - und prompt holte sich Kapitän Oliver Bierhoff beim Aufwärmen einen Muskelfaserriss ab.

Es ging wirklich alles schief, selbst die medizinische Versorgung. Bierhoff stand eine Ewigkeit in einer Menschenmasse, weil der Arzt nicht zu ihm durchkam. "Das ist ja unmöglich. So etwas habe ich noch nie erlebt," grantelte der Milan-Stürmer. Eine Stimmungslage zwischen Genervtheit und Zersetzung, auch so eine Begleiterscheinung dieser düsteren Tage in Belgien und den Niederlanden. Bierhoff blieb somit immerhin der Rest des EM-Trauerspiels erspart. Gegen keineswegs übermenschliche Engländer gab es erstmals seit dem Wembley-Tor wieder eine Pleite bei einem Turnier, das 0:1 brachte Deutschland der Heimreise bedrohlich nah.

Nur ein deutlicher Erfolg gegen Portugal hätte das Aus noch abwenden können. Dass der nicht gelang, dass vielmehr alles in purer Agonie endete, als schließlich auch noch Oliver Kahn patzte und ein Mensch namens Sérgio Paulo Marceneiro da Conceição drei Tore gegen Deutschland erzielte, krönte diesen kolossalen Reinfall einer EM. Die DFB-Elf war bis ins Fundament erschüttert worden, sogar Kahn wurde kleinlaut: "Ich habe schon viel erlebt in meiner Karriere, aber das war das Bitterste. Ich schäme mich." Es war der unvermeidliche Knall, der Aufprall am Boden - ja, im guten Sinne vielleicht auch eine Art Katharsis, die der DFB nach Jahren der Sättigung, des Aufschiebens bauchte.

Es reifte die Erkenntnis, dass eine überalterte, konzeptlose, taktisch unterentwickelte Truppe schlicht zweitklassigen Fußball liefert. Dass Deutschland wieder Talente entwickeln musste. Dass Ausbildung, Taktik und spielerisches Können vielleicht doch erstrebenswerte Größen sind. Dass der deutsche Fußball auf schmerzhafte Weise Reformen anleiern musste. Internate, Trainingssteuerung, Jugendförderung, all das ersetzte künftig das bräsige Dogma vom Waldlauf, vom Kratzen und Beißen, den ewig ausgelutschten deutschen Tugenden. Tatsächlich galt ja das, was Jürgen Klinsmann ab 2004 propagierte, als er den Verjüngungsprozess endgültig einleitete: Jemand musste dringend "den Laden auseinandernehmen".

Jens Nowotny war zwar später auch noch irgendwie dabei, er durfte zweimal bei der EM 2004 ran, aber da hatte es sich noch nicht ausgerumpelt, es gab erneut ein Vorrundenaus. Und 2006 bekam er sogar einen Abschiedseinsatz bei der Heim-WM geschenkt. Das Jahr 2000, die Hochzeit des deutschen Fußballumbruchs, blieb aber immer mit ihm verbunden. Schließlich hatte er bei der Euro als einziger Feldspieler immer durchgespielt.

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