Journalismus:Dieser Text ist nicht neutral

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Man kauft im Bioladen, die Kinder essen Schaumküsse - reicht das immer noch nicht? Leider nein. (Foto: DPA)

Die weiße Mehrheitsgesellschaft gibt sich einer Illusion von Neutralität hin. Sie muss in Debatten mehr Nebeneinander akzeptieren und Zuhören lernen.

Kommentar von Sonja Zekri

Dieser Text ist nicht neutral. Es kann zu Zuspitzungen kommen, sogar zu Polemik. Dieser Text darf das, denn er erscheint im Meinungsteil. Wäre er eine Meldung, etwa über den Gesundheitszustand von Donald Trump, müsste er sich um Objektivität bemühen. Selbst eine vermeintlich sachliche Meldung allerdings - Journalistenschüler lernen das früh - enthält subjektive Anteile. Journalisten wählen Thema, Länge und Platzierung eines Textes aus. Und weil diese Entscheidungen von Menschen getroffen werden, sollen sie sich zwar um die Schilderung der schieren Tatsachen bemühen, um einen möglichst unbeteiligten Blick, und sich der Bewertung enthalten. Aber sie werden das Ideal absoluter Objektivität nie erreichen. Nichts ist schädlicher für die Glaubwürdigkeit der Medien als die Behauptung, man schreibe nur auf, "was ist". In dieser klinischen Reinform kann das keine Zeitung leisten.

Neutralität nämlich bedeutet die Bereitschaft, alle beteiligten Seiten zu Wort kommen zu lassen. Sie hat Grenzen - bei Aufrufen zur Gewalt, bei menschenverachtenden Positionen. Neutralität umfasst nicht den Anspruch, demokratiefeindliche Ansichten zu verbreiten.

Das ist die handwerkliche Seite einer Auseinandersetzung, die vor allem Journalisten beschäftigt, aber direkt ins gerade sehr erschütterte deutsche Selbstverständnis führt. Auslöser war der Rücktritt des Meinungschefs der New York Times, nachdem er den Aufruf eines republikanischen Senators zum Einsatz von Militär gegen Demonstranten gedruckt hatte, ohne ihn gelesen zu haben, was vor allem unter schwarzen Kollegen Empörung ausgelöst hatte. Nachdem die Aufregung Deutschland erreichte, fragten sich auch hiesige Journalisten, wie man den Gewaltfantasien und Fake-News-Unterstellungen von Demokratiegegnern am wirksamsten begegnen könne: durch größtmögliches Bemühen um Neutralität oder durch das offene Bekenntnis zur eigenen engagierten "Haltung", vage in der Tradition von Sartres "littérature engagée"?

Die Gründe gegen Letzteres liegen auf der Hand. Wozu Journalismus, wenn er klingt wie aus einer Pressestelle, und sei es die Greta Thunbergs oder Christian Drostens oder anderer milieuspezifischer Lichtgestalten? Ein solcher Journalismus wäre erwartbar und intellektuell öde, Polstermaterial für die eigene Blase, sonst nichts. Wobei man der Ehrlichkeit halber zugeben muss, dass manche Artikel durchaus klingen wie aus der Pressestelle von Greta Thunberg oder Christian Drosten. Gerade das zeigt, dass es keine gute Idee ist, den Anspruch der Neutralität den besten Absichten zuliebe aufzugeben.

Auffällig an der Debatte über Neutralität oder Engagement ist, wie sehr sich gerade konservative Kommentatoren, zumal die Springer-Medien, in die Bresche werfen und bereits das Menetekel von Gesinnungsjournalismus und Meinungsterrorismus an einem blutroten Horizont aufziehen sehen. Immerhin war die Bild-Zeitung bislang eher nicht als Leuchtturm der Neutralität bekannt. Die Konservativen reagieren auf neue Stimmen und neue Forderungen, die eine als harmonisch empfundene, in Wahrheit aber exklusive Diskursgemeinschaft infrage stellen. Beispiele für das fatale Treiben dieser neuen Diskurskontrolleure finden sie überall. Die "Harry-Potter"-Erfinderin J. K. Rowling wird im Internet nach einer Bemerkung über Transpersonen mit Dreck überschüttet? Die Arme, ein Opfer entfesselter Identitätsfanatiker. Dass Rowling feministisch argumentiert und von der Sorge getrieben wird, die Anliegen von Frauen könnten durch aufgelöste Geschlechtergrenzen geschwächt werden, spielt in der Empörung eine Nebenrolle - das Feindbild ist wichtiger.

Aber die Verunsicherung reicht bis weit hinein in ein Milieu, das sich selbst wohl als liberal bezeichnen würde, Grünen-Wähler, Bioladenkunden, scharfe Kritiker von Frauenfeinden und Rassisten. Mal erbittert, mal larmoyant möchten sie wissen, was man denn als weißer Mann überhaupt noch sagen könne. Berechtigte Anliegen von Migranten und Frauen habe man immer großzügig unterstützt. Das N-Wort ist tabu, Herrenwitze gelten als primitiv, und selbstverständlich essen die Kinder Schokoküsse. Reicht das immer noch nicht?

Leider nein. Und zwar nicht, weil Anliegen und Ansichten der sogenannten weißen Mehrheitsgesellschaft weniger berechtigt wären als die aller anderen, sondern weil sie nicht mehr als das sind: Anliegen eines Bevölkerungsteils neben anderen. Das klingt selbstverständlich. Aber für Menschen - meist: Männer -, die lange der Illusion ihrer gesamtgesellschaftlichen, ja universellen Zuständigkeit anhingen, ist es ein harter Brocken.

Es gibt mehr als eine Perspektive, selbst auf historisch vermeintlich Bekanntes. Wenn Protestierende in Großbritannien ein Denkmal Winston Churchills stürzen wollen, findet mancher in Deutschland das falsch, weil Churchill gegen Hitler kämpfte. Doch andere sehen eben auch den Mann, der als britischer Premierminister brutale Internierungslager während des kenianischen Mau-Mau-Aufstandes zu verantworten hatte. Der amerikanische Bürgerkrieg gilt in den USA als nationale Tragödie, Brudermorde, Verwüstung, großes Leid. Das sei die Sicht der Weißen, schrieb der schwarze Intellektuelle Ta-Nehisi Coates, kein Schwarzer werde im Bürgerkrieg etwas anderes sehen als die Befreiung von der Sklaverei.

Die Empfindlichkeiten sind gerade groß, und sie sind es eben auch in einer dominanzverwöhnten Schicht, zu der viele Journalisten gehören. Selbstverständlich können sich auch Weiße zum Rassismus äußern und Männer zur Gleichberechtigung. Echte Vielfalt gehört zu gutem Journalismus ebenso wie Objektivität. Wenn aber Neutralitätsforderungen in der öffentlichen Debatte nur ein Vorwand sind, um eigene vertraute Perspektiven zu schützen, ist das nicht mehr glaubwürdig.

© SZ vom 20.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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