Steuerskandal:Cum-Ex-Aufklärung kommt nur schleppend voran

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Zahlreiche Banken und deren Berater hatten bis mindestens 2012 bestehende Kontrolllücken ausgenutzt und sich beim Handel von Aktien mit (Cum) und ohne (Ex) Dividende zuvor nicht gezahlte Steuern erstatten oder anrechnen lassen. (Foto: Arne Dedert/dpa)

Viele Jahre nach dem milliardenschweren Griff in die Staatskasse sind die meisten Verdachtsfälle noch immer offen. In vielen Fällen droht nun Verjährung.

Von Klaus Ott und Jörg Schmitt, München

Ein Steuerfahnder, der über Jahre hinweg gerade mal 51 seiner mehr als 400 Fälle abgearbeitet hat, bekäme ziemlich sicher Ärger. Eine Rüge seines Vorgesetzten zumindest, oder eine Abmahnung - vielleicht würde er auch strafversetzt. Wie gut, dass kein Minister in Berlin oder in den Ländern mit solchen Konsequenzen rechnen muss, auch wenn deren Bilanz in Deutschlands größtem Steuerdiebstahl, dem Cum-Ex-Skandal, ebenso miserabel ausfällt. Die Politik hat die Aufklärung des dreisten Griffs der Banken in die Staatskasse, bislang zumindest, kräftig verbockt: Von dem hohen Druck, mit dem Finanzbehörden deutschlandweit versucht haben, das mutmaßlich gestohlene Geld zurückzuholen, scheint wenig übrig.

Nach Angaben des Bundesfinanzministeriums sind bislang 51 Verfahren, in denen der Fiskus 1,1 Milliarden Euro gerettet hat, rechtskräftig abgeschlossen. 391 Verdachtsfälle, in denen es um 4,3 Milliarden Euro geht, waren bei der jüngsten Umfrage des Ministeriums unter den Bundesländern und beim Bundeszentralamt für Steuern in Bonn noch offen. Das teilte das Berliner Finanzministerium jetzt auf Anfrage von SZ und WDR mit. Steuerfahnder gehen von einer hohen Dunkelziffer aus und schätzen den Gesamtschaden auf mehr als zehn Milliarden Euro.

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Die offiziellen Zahlen des Ministeriums bedeuten: Nur etwa jeder neunte entdeckte Verdachtsfall ist bislang geklärt, nur jeder fünfte Euro aus den untersuchten Fällen konnte bisher gesichert werden. Und das, obwohl beim Bundesfinanzministerium bereits vor mehr als zehn Jahren die erste Warnung über Milliardenschäden durch Cum-Ex-Aktiendeals eingegangen war.

Und obwohl die dubiosen Deals zu Lasten der Staatskasse vom Fiskus schon seit fast acht Jahren systematisch untersucht und bearbeitet werden: Am 27. und 28. August 2012 hatten sich Vertreter der Finanzbehörden in der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main zu einem bundesweiten Erfahrungsaustausch über Cum-Ex-Geschäfte getroffen. Es gehe um einen "nicht übersehbaren Steuerschaden", hieß es in einer der vielen Vorlagen für dieses Treffen. Den Vorlagen zufolge wurden sogar konkrete Prüfungsvorschläge besprochen, um die dubiosen Börsengeschäfte aufklären zu können.

Fahnder sprechen von fehlender "Waffengleichheit", die Kapazitäten reichten nicht

Zahlreiche Banken und deren Berater hatten bis mindestens 2012 bestehende Kontrolllücken ausgenutzt und sich beim Handel von Aktien mit (Cum) und ohne (Ex) Dividende zuvor nicht gezahlte Steuern erstatten oder anrechnen lassen. Die Finanzämter waren viele Jahre lang vor allem von Großbanken aus Deutschland, Großbritannien und den USA gezielt getäuscht worden. Erst ab 2012 schob die Bundesregierung diesen Cum-Ex-Deals einen weitgehenden Riegel vor; gleichzeitig sollten möglichst viele Fälle möglichst rasch aufgearbeitet werden.

Erst vor fünf Monaten hat die Justiz den Griff in die Staatskasse in einem Prozess am Landgericht Bonn erstmals als kriminell verurteilt. Und obwohl die Politik großspurig zusätzliches Personal für die Ermittlungen angekündigt hat: Die meisten Staatsanwaltschaften und Steuerfahndungsstellen, die Cum-Ex-Fälle bearbeiten, klagen weiter über zu wenig oder zu wenig qualifiziertes Personal. Ein Ermittler sagt, bei Cum-Ex habe jeder Kollege, der einen Verdachtsfall prüfe, zahlreiche Anwälte gegen sich. Von "Waffengleichheit" könne keine Rede sein. Auch komme man angesichts der Fülle des sichergestellten Materials und der inzwischen rund 1000 Beschuldigten bei den Ermittlungen kaum noch hinterher.

Dabei hatte die Aufklärung des Cum-Ex-Unwesens zunächst höchste Priorität. Bereits Ende August 2012 war bei dem bundesweiten Behördentreffen in der Oberfinanzdirektion Frankfurt von einem "Prüfungsmuss!!!" die Rede. Vor "zu Unrecht gewährten Steuervorteilen" wurde gewarnt und auch vor einer Verjährung von Rückzahlungsansprüchen. Inzwischen droht genau das in vielen Fällen. Der nordrhein-westfälische Justizminister Peter Biesenbach will deshalb, wie er kürzlich erklärte, "Gesetzesvorschläge einreichen, damit das Geld nicht den Steuerbetrügern verbleibt." Auch das Bundesfinanzministerium unter Olaf Scholz will Gesetze nachbessern, damit dem Steuerdiebstahl kein zweiter Skandal folgt, indem in großem Stil Ansprüche verjähren. Es sei "von großer Bedeutung, dass die Taten aufgeklärt, die Täter bestraft und Taterträge entzogen werden", erklärte das Ministerium kürzlich.

Das aber ist offenbar leichter gesagt, als getan. Zwar haben einzelne Banken schon vor Jahren reinen Tisch gemacht und dem Fiskus Millionen zurückgezahlt. Bei den meisten Geldinstituten ist aber noch offen, ob sie dem Staat etwas zurückerstatten. Einzelne Banken wie eine Tochter der französischen Großbank Crédit Agricole haben zwar Steuerbescheide erhalten und einstweilen gezahlt. Allein bei der Crédit Agricole geht es um einen mutmaßlichen Schaden in Höhe von 312 Millionen Euro, zuzüglich Zinsforderungen von 148 Millionen Euro. Doch inzwischen bestreitet die Bank die Vorwürfe und klagt bei Gericht gegen die Finanzbehörden. Die bereits gezahlten 312 Millionen Euro will sie zurück.

Jetzt rächt sich womöglich, dass CDU/CSU und SPD mit ihrer Mehrheit im Bundestag den Skandal lange Zeit heruntergespielt hatten. Im 2017 vorgelegten Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses befand die schwarz-rote Mehrheit, der Schaden betrage wohl weniger als eine Milliarde Euro. Regierung, Bundestag und Behörden hätten es mit ihren "Anstrengungen" geschafft, den Schaden für den Fiskus "auf einen Bruchteil der öffentlich kolportierten Summe" zu reduzieren. Bereits Anfang 2018 teilte das BMF dann aber mit, dass in mehr als 400 Verdachtsfällen wegen mehr als fünf Milliarden Euro Steuerschaden ermittelt werde. Die meisten Fälle sind, wie sich zeigt, immer noch ungeklärt. Noch ist es aber nicht zu spät.

© SZ vom 11.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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