Nächster DFB-Gegner:Ungarn berauscht sich selbst

Fußball-EM 2021: Ungarns Torhüter Peter Gulacsi und Attila Fiola nach dem Spiel gegen Frankreich

Ergreifende Momente: Ungarns Torhüter Peter Gulacsi und Torschütze Attila Fiola freuen sich über den unerwarteten Punktgewinn gegen Weltmeister Frankreich.

(Foto: Robert Michael/dpa)

Die Mannschaft des nächsten deutschen Widersachers erlebt eine emotionale Achterbahn bei diesem Turnier. Deutschland könnte - ohne den akuten Lärm im Heimstadion - allerdings eine zu große Aufgabe werden.

Von Frank Hellmann, Budapest

Marco Rossi schien der Ratschlag wichtig zu sein. "Die Leute sollen einfach einen schönen Sonntag verbringen", lautete die Botschaft des ungarischen Nationaltrainers, nachdem sich seine leidenschaftlich kämpfenden Fußballer im Budapester Brutkessel ein 1:1 gegen den Weltmeister Frankreich erarbeitet hatten. Die Menschenmenge wirkte nahezu berührt von so viel Einsatz, die Ehrenrunde wollte nicht enden, der Applaus sowieso nicht.

Und bevor alles zu früh auf das Duell gegen Deutschland blickt, fand der kahlköpfige Italiener Rossi, schenkt er den Menschen in seiner Wahlheimat mal ein sorgenfreies Wochenende. Wobei die Bewohner der an vielen Ecken betörend schönen Metropole gerade nicht den Eindruck erwecken, als könnten sie diesen EM-Sommer nicht genießen. Vor atemraubenden Donau-Panoramen sind zahlreiche entspannte Public-Viewing-Bereiche entstanden, die am Samstag unter freiem Himmel das Geschäft ihres Lebens machten.

Tormann Peter Gulacsi ist vom Spiel völlig ergriffen: "Dass wir so etwas erleben durften."

Von einem besonderen Tag erzählte auch Rossi: "Vorher habe ich eine EM immer nur im Fernsehen gesehen. Jetzt bin ich hier und fühle mich wie ein Kind, das einen Freizeitpark besucht und die Fahrgeschäfte ausprobieren will."

Doch zu einer Achterbahn gehört es, dass es schnell rauf, aber auch schnell wieder runter geht. Ungeachtet aller Hochgefühle erscheint die Aufgabe herausfordernd, mit einem Sieg gegen Deutschland als Außenseiter das Achtelfinalticket zu lösen. In München gibt es kein solches Geschrei, keinen solchen Gesang und kein solches Grölen der eigenen Fans, die diesmal wieder zu Abertausenden - ungeachtet aller Corona-Regeln - vom Heldenplatz in die Puskás Aréna gepilgert waren.

Der Trainer weiß, dass am Mittwoch diese Rückendeckung fehlt. "Ich bin nicht dumm und arrogant. Ich sage nicht, dass wir nach München fahren und gewinnen", meinte der 56-Jährige. "Ich sage, dass wir nach München fahren und alles versuchen werden, um das beste Ergebnis zu erzielen." Schlimmstenfalls gehe man mit erhobenem Haupt aus diesem Turnier, das selbst für den sonst so besonnenen Tormann Peter Gulacsi, 31, unvergessen sein wird. Ausgelassen wie ein Kind tanzte der Ballfänger von RB Leipzig durch seinen Torraum, sackte dann am Pfosten in die Knie und murmelte später ergriffen: "Dass wir so etwas erleben durften."

Auch der mal für Werder Bremen spielende Mittelfeldmann Laszlo Kleinheisler, 27, als giftiger Schattenmann von Frankreichs Supermann N'Golo Kanté zum "Spieler des Spiels" ausgezeichnet, äußerte sich gerührt: "Das alles gibt uns große Kraft für das letzte Gruppenspiel." Vermutlich wird dann auch Kapitän Adam Szalai, 33, zur Verfügung stehen, nachdem der Mittelstürmer gegen Frankreich nach einem Zusammenprall wegen Kreislaufproblemen früh vom Feld musste.

Ungarn gegen Frankreich oder: Das Lehrstück vom tapferen Außenseiter, der dem trägen Favoriten ein Bein stellt

"Nach zwei Stunden voller Adrenalin und Spannung" (Rossi) waren Spieler und Trainer zunächst fix und fertig. Beim Nationalcoach entluden sich weniger die elektrisierenden Eindrücke des Tages, sondern vielmehr die anstrengende Arbeit von drei Jahren.

Er erinnerte daran, wie er bei seinem Amtsantritt 2018 im ungarischen Trainingszentrum im Vorort Telki von einer "Beerdigungsatmosphäre" begrüßt worden sei: "Damals habe ich den Jungs gesagt, dass ich möchte, dass jeder Nationalspieler mit ganzem Herzen für die Mannschaft kämpft." Diese Botschaft kam offenbar an: Die Zulassung fürs halbe Heimturnier erarbeiteten sich die Magyaren erst in den letzten Minuten des Playoff-Rückspiels gegen Island. Damals noch vor leeren Rängen - und Rossi fehlte wegen eines positiven Corona-Tests.

Am Samstagnachmittag erlebte nun eine dicht gedrängte Menschenmenge von offiziell 55 998 Besuchern - Einheimische mussten entweder eine (Erst-)Impfung oder eine überstandene Erkrankung nachweisen - das Lehrstück vom tapferen Außenseiter, der dem trägen Favoriten ein Bein stellt. Als der aufgerückte Verteidiger Attila Fiola einen Konter erfolgreich abschloss (45.+2), räumten Torschütze und Teamgefährten im Überschwang den am Spielfeldrand stehenden Tisch der Stadionsprecherin ab.

Die ziemlich schlappen Franzosen werden sich straffen müssen, will der Weltmeister gegen Europameister Portugal den Gruppensieg einfahren. Wenn nicht Ungarns Abwehrchef Willi Orban den Ball nach einer Hereingabe des nie zu fassenden Stürmers Kylian Mbappé abgelenkt hätte, wäre Antoine Griezmann kaum zum Ausgleichstreffer gekommen (66.).

Trotz seines insgesamt siebten EM-Treffers fühlte sich Frankreichs Torschütze im Tollhaus gar nicht wohl: "Wir sind ein volles Stadion nicht mehr gewohnt. Wir haben uns nicht gehört", klagte der 30-Jährige. Überdies: "Der Rasen war trocken, es war heiß und schwül." Hörte sich bei Monsieur Griezmann ein bisschen an wie bei einem kleinen Kind, das im Freizeitpark keinen Spaß hatte.

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