Nachruf auf Birgit Vanderbeke:"Sagen Sie nichts von Liebe"

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Die Sprache und den Alltag einer Epoche festhalten: Die Schriftstellerin Birgit Vanderbeke, geboren 1956, ist am 24. Dezember 2021 in Südfrankreich gestorben. (Foto: Julian Vanderbeke/Piper Verlag/dpa)

Sie hat über die Brüche in bürgerlicher Normalität, die Deklassierung, das Kinderkriegen geschrieben und damit viele Themen der heute populären Literatur vorweggenommen: Zum Tod der Schriftstellerin Birgit Vanderbeke.

Von Meike Feßmann

Ihre Bücher haben Rhythmus, Eleganz, Stil, und sie erschienen eins ums andere im Abstand von ein bis zwei Jahren. Die Länge blieb gleich, 120 Seiten, das schlanke Gardemaß entsprach ihrem Produktionsrhythmus. Birgit Vanderbeke, am 8. August 1956 in Dahme in der Mark Brandenburg geboren und kurz vor dem Mauerbau mit ihrer Familie in den Westen geflüchtet, wollte nicht nur schreiben. Sie wollte auch Zeit haben für das Alltägliche. Sie war eine Lebenskünstlerin, glücklich situiert im "deutsch-französischen Spagat". Seit 1993 lebte sie in einem kleinen Ort in Languedoc-Roussillon. Im Piper Verlag hat sie eine wunderbare "Gebrauchsanweisung für Südfrankreich" herausgebracht. Ihr Sohn Julian war acht, als sie mit ihm und ihrem Mann dorthin zog. So war sie von Anfang an in die französische Gesellschaft integriert, deren Besonderheiten sie mit lakonischem Charme zu beschreiben verstand.

Bekannt wurde sie mit ihrer Erzählung "Das Muschelessen". 1990 gewann sie für einen Ausschnitt daraus den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt. Eine Familie wartet auf die Ankunft des Vaters und stellt Vermutungen an. Die abgründige Normalität des bundesrepublikanischen Alltags war lange ihr Thema, oder genauer: die minimale Abweichung von der scheinbaren Normalität. In dieser Lücke, siedelte sie ihre Erzählungen an. Ob es nun der Vater ist, dessen Nichterscheinen zum Festessen zu einem kleinen Aufstand in der Familie führt, oder die Mutter, deren Ängste, Kontrollzwänge und Überprotektion in "Friedliche Zeiten" zum Schwungrad der Handlung werden: Die angestrebte Normalität ist mit Mühen erkauft, allerorts erzeugt sie Kollateralschäden.

Geschult an Thomas Bernhard, Max Frisch und dem Nouveau Roman, entwickelte Birgit Vanderbeke im Lauf der Jahre ihren eigenen Sound. Er ist auf Anhieb zu erkennen: Kunstvoll in seiner schleifenförmigen Wiederholungsstruktur, bleibt er zugleich nah an der mündlichen Rede, er schraubt sich hoch in gedankliche Höhenflüge, segelt lakonisch durch Lebensweisheiten und Allgemeinplätze und landet schließlich trittsicher auf dem Boden des Alltags. Vanderbekes Werk ist ein "Wörterbuch der Gemeinplätze" im Sinne Flauberts. Die Erzählerin, Bouvard und Pécuchet in einer Person, destilliert aus der Sprache die Epochen-Signatur.

Zuerst war Nachkriegszeit, dann kamen die Desaster von außen

Ihre Erzählungen sind Tiefenbohrungen in den Alltag und haben Zeitgeschichte mitgeschrieben. "Alberta empfängt einen Liebhaber" war 1997 ein großer Erfolg, nicht zuletzt, weil Marcel Reich-Ranicki der Ehekrisen-Geschichte im "Literarischen Quartett" attestiert hatte, sie sei "grandios geschrieben und hocherotisch".

2001 gab sie einer Erzählung den Titel "abgehängt". Das meinte schon vor zwanzig Jahren genau das, wofür heute die Bücher von Didier Eribon, Édouard Louis oder Annie Ernaux stehen, wenn sie von Menschen erzählen, die mit dem Wandel der Zeiten nicht zurechtkommen, deklassiert werden. Die Goldgräberstimmung im Berlin der Nachwendezeit, der Börsen-Hype, das Sushi-Bar-Gehabe und New-Economy-Strebertum wirkt von heute aus betrachtet wie das Dokument einer vergangenen Epoche. Das Motto stammte von Gertrude Stein und könnte über allen Büchern Vanderbekes stehen: "Sie sagt immer, daß sie das Abnorme nicht leiden könne, es sei so durchsichtig. Das Normale, sagt sie, sei auf so viel simplere Art kompliziert und deshalb interessant."

Der katastrophische Unterton der Vanderbekeschen Sound-Manufaktur kam im Lauf der Jahre nicht mehr aus den vom Nationalsozialismus geprägten Familienstrukturen der Nachkriegszeit. Der Umgang ihrer Generation mit den eigenen Kindern ist partnerschaftlicher und bietet weniger Konfliktpotenzial. Die Desaster kamen nun von außen. In "Der Sommer der Wildschweine" erzählte sie von Börsen-Crash, Fracking und Naturzerstörung, aber auch vom Zusammenhalt kleiner Gemeinschaften, die sich mit Handwerkskunst und Erfindungsgabe gegen feindliche Übernahmen wehren.

Später scheint es ihr gelungen zu sein, sich als Glied einer Generationenkette zu sehen

Manchmal war die in Frankfurt am Main aufgewachsene Schriftstellerin ihrer Zeit voraus. Mit einem Erziehungsratschlag von Bruno Bettelheim im Titel ist "Gut genug", ihr Buch übers Kinderkriegen aus dem Jahr 1993, ein Memoir avant la lettre. Was inzwischen fast schon ein Genre geworden ist, kritisch und sehr persönlich übers Kinderkriegen und Muttersein zu schreiben - wie Rachel Cusk, Sheila Heti oder Maggie Nelson - betrieb sie mit Lakonie. "Um es genau zu sagen, fällt einem, wenn man halbwegs bei Verstand ist, kein einziger Grund dafür ein. Sagen Sie nichts von Liebe. Wir sind für Liebe nicht so geeignet." Im ideologischen Vakuum zwischen dem Natürlichkeitswahn der Siebzigerjahre und den Lifestyle geprägten Neunzigern hat sie ziemlich genau getroffen, warum Kinder haben zu wollen in einer individualisierten Gesellschaft absurd erscheinen muss. Die Selbstverständlichkeit, mit der in Frankreich trotz des Individualismus der Zusammenhalt der Generationen kultiviert wird, scheint ihr später dabei geholfen zu haben, sich selbst als Glied einer Generationenkette zu sehen. "Alle, die vor uns da waren", ihr letzter Roman von 2020, erzählt davon.

Am 24. Dezember ist Birgit Vanderbeke überraschend in Südfrankreich gestorben. Sie wurde 65 Jahre alt.

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